Vom Schreiben

Ein Blick auf die Uhr. Halb fünf, draussen dunkelt es bereits. Ein schöner, ein heller Abend. Nurina liest nochmals den Schlussabsatz des Artikels über die Entwicklung bei Schreibrobotern und stellt dann den Computer ab.

Fünf Minuten später ist Nurina zu Fuss unterwegs zum Aussichtspunkt hoch über dem See. Für ihr Projekt für den heutigen Abend sucht sie noch nach Ideen. Etwas Luft um den Kopf und weite Blicke bringen sie jeweils weiter. Sie möchte noch heute Abend einen Text für ihren Geschichtenblog schreiben, etwas zu den Festtagen, zum Ende dieses Jahres und zum Beginn des nächsten Jahres.

Der Artikel über die Schreibroboter bestimmt auch nach den ersten tausend Schritten ihre Gedanken. Sie könnte versuchsweise einen dieser Roboter, diese schreibende künstliche Intelligenz, ausprobieren.

Geschriebene und publizierte Geschichten zu den Festtagen, zum Abschluss des bisherigen Jahres und zum Start in ein neues Jahr gibt es sehr viele. Nurina schmunzelt. Die künstliche Intelligenz kann sich sicher aus einem grossen Vorrat an solchen Geschichten bedienen. Es wird vor allem darum gehen, einer der Schreibroboterinnen die zielführenden Fragen zu stellen.

Einige Stunden später sitzt Nurina immer noch vor dem Computer und trinkt hin und wieder einen Schluck aus der Teetasse. Bald wird sie sich zum Schlafen ins Bett legen. Die Schreibroboterin hat einiges an Texten produziert. Hin und wieder hat Nurina den Eindruck gehabt, da könnten auch Passagen aus von ihr geschriebenen Texten vorkommen. Das waren gut geschriebene Vorschläge. Die Lizenz für dieses Programm hat sich gelohnt. Nur: Einen Text für ihren Geschichtenblog hat sie noch nicht gelesen. Es hat noch bei keinem Text «Klick» gemacht.


Nach dem Aufwachen ist die Erinnerung an einen Traum. Anirun hat sich gemeldet und erklärt, sie sei die natürliche und dadurch persönliche Schreibintelligenz von Nurina. Schliesslich spiele sie mit den Namen so wie auch Nurina. Anirun hat einige Gedanken aufgenommen, an die sich Nurina mit Blick auf die Texte der Schreibroboterin erinnert. Sie wird diesen noch nachgehen. Da kommt vieles zusammen. Bis zum Mittag wird sie den neuen Eintrag im Geschichtenblog schreiben können.

Sie erinnert sich an ein Lachen von Anirun in ihrem Traum. Anirun hat dazu gesagt, sie freue sich, dass Nurina die Schreibroboterin genutzt habe. Nein, sie sei auf keinen Fall beleidigt. Ideen, Texte – egal ob von Menschen oder Maschinen – seien immer eine Inspiration für die eigene Arbeit. Und Nurina wisse ja, wie mit solchen Dingen fachlich korrekt umzugehen sei.

Nurina begibt sich ausnahmsweise auf einen kurzen Morgenspaziergang, um sich vor dem Schreiben nochmals die Gedanken durch den Kopf gehen zu lassen.

Die Texte der Schreibroboterin waren gut geschrieben und sprachlich korrekt. Wenn ich schreibe, überlegt sich Nurina, arbeite ich so lange am Text, bis er mir gefällt. Dazu gehören auch Dinge, etwa Wortkombinationen, hin und wieder auch ein Füllwort, das nur ich gelegentlich brauche. Die Texte der Schreibroboterin waren Querschnittstexte, vielleicht auch Durchschnittstexte, denen diese persönlichen Elemente fehlten. Vielleicht kann ich mal ausprobieren, ob ich es schaffe, mit dem Weiterdenken eines Textes der Schreibroboterin eine Geschichte vorlegen zu können, die mir selbst gefällt. Wenn ich bei einem Text das Vieraugenprinzip mitwirken lasse, wird er regelmässig noch besser, noch schöner. Mensch und Maschine im Team hat allenfalls eine ähnliche Wirkung.

Bei vielen Texten geht es meist nur um die Vermittlung von Informationen. Diese sollen so verständlich wie möglich sein. Wenn Nurina solche Texte schreibt, schreibt sie für sich selbst als Leserin. Ich will nach dem Lesen wissen, was dies für mich bedeutet, ob ich neue Denkelemente finde, ob dies Auswirkungen auf mein Verhalten, auf meinen Konsum, meine Vorlieben oder meine zukünftigen Entscheide hat. Andererseits gibt es genügend Geschichten, die zeigen, wie schnell sich Menschen bei derartigen Aussagen bevormundet vorkommen. Wie käme es an, wenn die Schreibroboterinnen Schlussfolgerungen aus den Texten ziehen und Vorgehensvorschläge formulieren würden?

Wenn ich einen Text schreibe, schreibe ich meist für Personen, die ich kenne, gehen die Gedanken von Nurina weiter. Manchmal ist es nur eine Person, manchmal ist es eine Gruppe von Menschen. Ich überlege mir, was ich diesen Menschen mit meinem Text mitgeben möchte. Ich vermittle manchmal einen Impuls, eine Idee für das Weiterdenken. Oder ich bestätige, an was wir bei gemeinsamen Gesprächen gedacht haben. Für mich ist es wichtig, dass die Menschen, für die ich schreibe, beim Lesen Freude geniessen. Ich hoffe, es gelingt mir, Menschen, die traurig sind, die eher pessimistisch gestimmt sind, einen angenehmen Moment zu ermöglichen. Nurina fragt sich, ob dies wohl künstliche Intelligenz auch kann. Oder wollen wir überhaupt, dass Schreibroboterinnen Gefühle zum Ausdruck bringen?

Als Nurina die Tür zu ihrem Arbeitsraum öffnet, ist ihr neuer Text in Gedanken bereits als Entwurf geschrieben. Ob dies wohl dem Wirken von Anirun zu verdanken ist? Nurina erinnert sich beim Einschalten des Computers an die Worte, die sie auf dem Bildschirm-Hintergrund festgehalten hat: Ich schreibe, weil ich einen Beitrag dazu leisten will, dass es allen Menschen gut geht, heute und in Zukunft.

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