Weihnachtsklänge

Im kleinen Dorf hoch über der Ebene dunkelt es. Der Weihnachtsabend bricht an.

Wer jetzt durch das Dorf spazieren würde, sähe in den hell erleuchteten Fenstern geschäftiges Treiben. Allerdings ist niemand unterwegs, alle bereiten den festlichen Abend zu Hause vor.

Jene, die am nächsten bei der Kirche wohnen, hören es als erste. Vom Kirchenplatz her tönen mächtige Orgelklänge. Das tönt nach Weihnachtsliedern, viele summen mit.

«Sue, kommst du mit, ich will schauen gehen, wer diese Melodien produziert.» «Roni, warte noch einen Moment, ich bin gerade fertig mit dem Zuckerguss für die Zimtsterne, schnell Händewaschen, und ich komme mit», antwortet Sue ihrem Bruder.

«Wir sind nicht die einzigen, da haben auch andere die gleiche Idee», meint Roni einige Minuten später, als er die Haustüre öffnet. Und er ruft ins Haus zurück, ob die anderen auch mitkommen würden, da sei schon das halbe Dorf auf den Beinen.

Auf dem Kirchenplatz steht ein grosser Lieferwagen, mit vielen, schön präsentierten Orgelpfeifen. Am Spieltisch davor sitzt eine jüngere Frau.

Unterdessen ist aus dem Summen Gesang geworden, fast alle kennen Melodie und Text der Weihnachtslieder. Gerade stellt jemand einen Beamer auf. Immer, wenn die Organistin das nächste Weihnachtslied anspielt, erscheint der Text auf der Kirchenwand.

«Sue, kennst du diese Frau?» Sue schüttelt den Kopf, und singt weiter.

Nach zwei weiteren Weihnachtsliedern steht die Organistin auf, stellt sich neben den Spieltisch. Es wird ruhig auf dem Platz.

«Hallo, Ihr lieben Menschen. Ich bin Carolina. Letztes Jahr an Weihnachten ist mein Partner bei einem Unfall gestorben. Wir hatten es bis zu seinem Tod sehr gut miteinander, sowohl im Leben als auch im Beruf – er war Cellist, ich bin Pianistin. Ich konnte nach seinem Tod nicht einfach weitermachen. Ich habe mich entschieden, mit einem Lastenfahrrad, auf dem ich ein digitales Piano aufgebaut habe, durch Europa zu fahren. Dort, wo es mir gerade passte, habe ich Musik gemacht, mal traurigere, mal fröhlichere Klänge. Irgendwann im September war ich auch schon mal hier, da war gerade ein Dorffest in Gang. Mir hat es hier sehr gut gefallen. Vor zwei Wochen habe ich diese Orgel kaufen können, und da wusste ich, dass ich am Weihnachtsabend hier sein wollte. Und Ihr habt mich nicht enttäuscht, Ihr seid aus Euren Häusern gekommen, obwohl Weihnachten ein häusliches, ein privates Fest ist. Auch wenn ich immer noch Trauer spüre, heute Abend ist da viel Friede und Freude. Euer Gesang ist sehr kräftig, wollt Ihr noch einige Lieder singen?»

Das vielstimmige Ja ging im starken Applaus unter.

Zehn Minuten später löscht Carolina das Licht am Spieltisch. Der Beamer wird ausgeschaltet. Es scheint, dass die Klänge bei den Menschen nachhallen. Ganz ruhig ist es auf dem Platz. Wenn im Licht der Platzbeleuchtung Gesichter zu sehen sind, leuchten diese, zeigen ein frohes Lachen. Langsam streben die Menschen wieder ihren festlich geschmückten Wohnungen zu, zurück zum Weihnachtsessen, zur Bescherung.

«Hallo Carolina. Vielen Dank für deine Lieder. Ich bin Heidrun, das ist mein Mann Ueli. Unsere Tochter und ihre Familie wollten eigentlich heute Abend auch hier sein, alle sind seit gestern krank – weil ihre Krankheit ansteckend ist, wollten sie nicht, dass wir sie besuchen gehen. Carolina, du bist herzlich eingeladen bei uns, wir können dir ein feines Essen anbieten, auch ein paar Geschenke, und selbstverständlich ein Bett für diese Nacht.»

Carolina stehen Tränen in den Augen. Sie nickt, versucht ein Lächeln. Sie möchte etwas sagen, doch ihr versagt die Stimme. Heidrun legt ihr den Arm auf die Schultern und zieht sie mit sich, weg vom Platz, hin zu ihrem Haus am Dorfrand.

Erst als Sue und Roni sehen, dass Carolina einen Platz für den Weihnachtsabend gefunden hat, gehen auch sie langsam zurück nach Hause.

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