Am Weihnachtstisch werden nach dem feinen Essen die Teller zusammengeräumt. Gemütlich sitzen alle zusammen und tauschen sich aus.
Maxine, was macht die Schule?, fragt Gerd, ihr Grossvater.
Maxine ist die Jüngste am Tisch. Sie ist Schülerin am Gymnasium Hohenbühl.
Mit den Noten bin ich ganz zufrieden. Besonders gefällt mir unser neues Theaterprojekt. Es geht um Wünsche.
Das passt ja bestens zu Weihnachten. Mal schauen bei der Bescherung, ob mein Geschenk zu deinen Wünschen passt.
Grandpapa, es geht nicht um solche Wünsche, es geht um die grossen Wünsche für die Zukunft der Erde.
Und das macht heute die Schule mit Euch? Wünsche für die Zukunft, das ist doch etwas für meine Generation.
Warum denn, Grandpapa?
Maxine ist etwas lauter geworden, bereits beginnen einige am Tisch, wenigstens mit einem halben Ohr mitzuhören.
Warum denn, Grandpapa? Wir müssen doch irgendwann in der Zukunft mit dem umgehen, was deine Generation, was die Generation meiner Eltern mit der Erde angestellt haben. Da macht es sicher Sinn, dass wir uns Gedanken machen, welche Wünsche wir auch an die Generation unserer Eltern und Grosseltern haben. Schliesslich sind sie es, die derzeit das Sagen haben.
Was eure Generation in Zukunft macht, ist ganz eure Sache – derzeit geht es um unsere eigenen Wünsche, wie es früher um die Wünsche unserer Eltern und Grosseltern ging. Eure Generation wird ja kaum etwas für uns tun.
Bist du da so sicher, Grandpapa? Auf jeden Fall ist dies eine ziemlich alte Ansicht, wir haben bei unseren Recherchen ein Zitat mit dieser Aussage aus dem 18. Jahrhundert gefunden. Den Brundtland-Report «Unsere gemeinsame Zukunft» zur Nachhaltigkeit aus dem Jahr 1987, noch vor meiner Geburt, solltest du auch mitbekommen haben.
Maxine, du sagst also, dass deine Wünsche wichtiger sind als meine.
So ist es nicht. Aber unsere Wünsche sind wichtiger als deine Wünsche.
Immer grösser wird der Kreis, der der Diskussion von Maxine und Gerd zuhört.
Lass mich dies erklären. Vor Weihnachten letztes Jahr hat Istvan aus unserer Klasse gewünscht, dass alle wollen, was er will. Wir haben uns zuerst sehr über Istvan gewundert. Dann hat er uns seine Geschichte vorgelesen – er will eine Welt ohne Kohle, Erdöl, Erdgas und Atomenergie. Viele Menschen sagen, dass dies möglich ist, wenn wir es wollen. Und Istvan hat gesagt, dass dies vor allem jene sind, die zufrieden sind in ihrem Leben, die ihre Zuversicht mit einem Lachen bestätigen. Istvan war letztes Jahr beeindruckt von den Menschen aus Tuvalu, die sich für den Klimaschutz einsetzen, weil sonst ihre Insel, ihr Lebensraum, vom Meer verschluckt wird. Es geht nicht nur um die kleinen Inseln im Meer, es geht auch um die Berge, wo der Klimawandel alles verändert. Mag sein, dass deine Generation noch nicht so direkt betroffen sein wird, aber es kann dir doch nicht egal sein, wie es nachkommende Generationen geht?
Maxine, auch wir hatten und haben einiges an Dingen zu erledigen, für die eigentlich unsere Vorfahren die Verantwortung zu übernehmen haben. Und wir haben es geschafft, uns geht es gut, damit geht es auch dir gut. So wird es auch in Zukunft sein – was willst du mehr?
Gerd, wenn ich die Zeitungen lese, wenn ich im Internet surfe, und all die schlimmen Nachrichten über das lese, was in der Welt passiert, habe ich den Eindruck, dass du «es geht uns gut» nur für das Geld und einen kleinen Teil der Welt verstehst, wirft Nicole, die Partnerin von Gerd, ein. Angesichts all dieser Nachrichten gefällt es mir, wenn in welcher Generation auch immer Menschen Wünsche haben für die Zukunft, die über ihren persönlichen Vorteil hinausgehen.
Gerd schüttelt den Kopf, und es scheint, als ziehe er sich aus der Diskussion zurück.
Maxine, fragt Nicole, was läuft denn in Eurem Theaterprojekt?
Jemand hat einen Brief gefunden aus dem Buch eines Professors. Den Brief aus dem Jahr 2097 schreibt eine Studentin an ihren Urgrossvater. Ein Absatz daraus ist unser Ausgangspunkt: «Konntest du damals nicht wissen, was auf die Welt zukam – oder wolltest du es nicht wissen? Hast du deine Augen wie die meisten Menschen vor den Entwicklungen verschlossen, die sich immer deutlicher abzeichneten?» Diesen fiktiven Blick aus der Zukunft zurück in die Gegenwart wollen wir ausbauen. Derzeit sind wir gerade daran, die Personen zu beschreiben, die das Theaterstück beleben sollen, etwa Herr oder Frau Zukunft, aber auch Frau oder Herr Vergangenheit. Jemand hat vorgeschlagen, dass Zukunft die Rolle einer älteren Person sein soll, dafür soll die Vergangenheit von einer jüngeren Person oder gar einem Kind gespielt werden.
Das überrascht mich jetzt, meint Nicole. Wie kommt Ihr auf eine solche Rollenverteilung? Zukunft betrifft doch vor allem die Jugend.
Ein Spruch sagt, dass die Geschichte zeigt, dass die Menschheit aus der Geschichte nichts lernt – die Vergangenheit passt somit bestens zu einer Person, die jünger ist und allenfalls lernt, aber noch wenig Erfahrungen hat. So wie wir es erleben, werden die Meinungen älterer Menschen in unserer Gesellschaft stärker beachtet als unsere Vorschläge, vielleicht eben, weil die Erfahrung stark gewichtet wird. Wenn sich also ältere Menschen Gedanken vor allem zur näheren Zukunft machen, kommt dies viel besser an. Beim Theaterstück wird es daher darum gehen, wie die Wünsche für einen langen Blick in die Zukunft eine gute Botschafterin, eine gute Frau Zukunft finden.
Da bin ich gespannt, Maxine. Ich freue mich jetzt schon auf die Einladung zu Eurem Theater!
Gerd steht auf und setzt sich neben Rosanne.
Rosanne, du bist meine Tochter, du bist die Mutter von Maxine. Wie siehst du die Sache? Kann ich mit deiner Unterstützung rechnen, oder bist du Fan deiner Tochter?
Rosanne lacht laut heraus, und zieht damit die Aufmerksamkeit der Tischrunde auf sich.
Schiedsrichterin bin ich nicht, ich bin ja auch Mitspielerin bei den Fragen um Vergangenheit und Zukunft. Ich habe einen Vorteil gegenüber dir: Schon in der Schule und im Studium habe ich von den ersten Überlegungen gehört, die Maxine jetzt ausgereifter vorgesetzt bekommt. Und seit mindestens einem Jahr ist der Klimaschutz fast täglich bei uns am Tisch Gesprächsthema.
Los, komm schon, was ist denn deine Meinung?
Ich verstehe sowohl dich wie Maxine. Nur schon wegen Tuvalu wird die Zukunft in die von Maxine gezeigte Richtung gehen müssen. Wenn dies so ist, muss auch ich einiges von dem aufgeben, was mir angenehme und willkommene Gewohnheit geworden ist. Für dich ist dies wahrscheinlich noch viel schwieriger. Da hat es wie ich dich verstehe viele Dinge dabei, die für dich Lebensqualität darstellen, auch Dinge, die du als Leistung deiner Generation verstehst.
Ja, Mama, genau darum wird es auch in unserem Theater gehen. Wenn ich dir zuhöre, müssen wir dich als Ideengeberin für Frau Zukunft befragen. Frau Zukunft muss nämlich vermitteln können, dass das Leben auch zukünftig lebenswert ist.
Im Brief der Studentin an ihren Urgrossvater steht am Schluss: «Wenn ich vergleiche, wie ihr gelebt habt und wie wir heute leben, so muss ich zugeben: Wir sind materiell nicht mehr so reich, wie ihr es gewesen seid. Wir haben alles, was es braucht, um ein erfülltes Leben zu führen. Wir fühlen uns wie im Paradies.»
Gerd schmunzelt. Da scheint mir der Unterschied nicht so gross zu sein. Auch ich finde, wir leben heute in einem Paradies. Maxine, bist du sicher, dass es für dein Paradies reicht, alles mit erneuerbaren Energien zu machen?
Nein, Grandpapa. Es wird noch einiges mehr brauchen. Wenn wir alle es wirklich wollen – du, ich, wir alle hier am Tisch, alle Menschen in der Stadt, im ganzen Land, auf der Welt –, dann schaffen wir es. Auch wenn wir wissen, dass die nach uns kommenden Generationen einiges zu tun haben werden, damit ein erfülltes Leben im Paradies auch zukünftig möglich sein wird. Wir haben unseren Beitrag zu leisten, damit auch zukünftige Generationen Wünsche haben können, und am Wahrwerden der Wünsche mitwirken können!
Maxine zitiert wortwörtlich aus dem Buch «Kraftwerk Schweiz» von Anton Gunzinger.