Die Grusskarte

«Gerade nach dem Mittagessen im kleinen Sitzungszimmer Süd. Ihr wisst ja, die Sprüche für die Neujahrskarte.» Mit diesen Worten erhob sich Erika, die Chefin der Kreativabteilung, vom Pausentisch und verschwand eilig, wohl zur nächsten Sitzung. Einige der Runde taten es ihr nach.

Holger, erst seit einer Woche in der Abteilung, blickte sich fragend bei den Verbleibenden nach einer Erklärung um.

«Jedes Jahr verschickt unsere Firma eine wirklich attraktive Grusskarte für Weihnachten und das Neue Jahr. Und jedes Mal steht der gleiche Spruch drauf: „Frohe Festtage. Ein gutes Neues Jahr.“ Das hat Maude, die oberste Chefin gestört, und so hat eine Gruppe den Auftrag erhalten, einen neuen fetzigen Spruch zu erfinden. Du kannst auch mitkommen, wenn Du Zeit und Lust hast.» Karim übernahm die Erklärung, während auch er aufstand und noch schnell das letzte Gipfeli auf den Weg ins Büro mitnahm.

Sechs Leute trafen sich nach dem Mittagessen, ein Querschnitt durch das Unternehmen, bezüglich Alter, Hierarchiestufen, Beschäftigungsdauer, Geschlecht. Erika legte einen Stapel Karten aus den Vorjahren auf den Tisch, auch Beispiele von KundInnen und der Konkurrenz.

«Wie wärs mit dem hier: „Viel Vergnügen mit fettem Schinken – viel Spass auf der Fahrt mit dem heissen Schlitten ins Neue Jahr.“»

«Meinst Du das jetzt ironisch, oder wie? Da steckt ja einiges an Doppeldeutigkeiten drin! Und was ist mit unseren velofahrenden Vegi-Kundinnen und Kunden? „Das Spitzenmenü von der Vegi-Karte – und mit prallen Hochdruckreifen und ohne Schweissflecken ins neue Jahr“.»

«Vergiss die jungen Väter nicht. Etwa so: „Ein breiteres Angebot als Babybrei mit Bier – und immer genügend helfende Rücken beim Einstieg mit Kinderwagen in den Schnellbus.“»

«Hey Leute, jetzt habt Ihr aber so ziemlich alle Klischees und Fettnäpfchen eingesammelt. Lassen wir sie dort, jetzt sind sie wenigstens versammelt.»

Erika unterbrach das improvisierte Ping-Pong-Spiel der Gruppe. Sie schlug vor, ab sofort stillschweigend und auf den grossen Papierbögen an der Wand weiterzuarbeiten. «Wir machen es uns einfach: Vorschläge notiert Ihr in schwarzer Farbe – unterstützende Kommentare in blau, Negativpunkte in grün. Noch Fragen? Aha ja, «Frohe Festtage. Ein gutes Neues Jahr.» steht schon hier, da dürft Ihr gerne auch mit blauer und grüner Farbe arbeiten. Also, ab jetzt zwanzig Minuten, los.»

Hoch konzentriert ging die Runde ans Werk, man hörte nur noch das Quitschen der Filzstifte auf dem Papier, ganz selten ein unterdrücktes Kichern, noch seltener etwas, das sich nach Knurren anhörte. Zwanzig Minuten später waren die Wände abgedeckt mit Wörtern in den drei Farben, hier wieder eine Skizze, dort einen ganzen Berg von Ausruf- und Fragezeichen. Die Runde machte einen entspannten Eindruck.

«Das war super, da waren endlich mal jene im Vorteil, die schneller schreiben als sprechen», meldete sich Madeleine nach Ablauf der zwanzig Minuten. «So, und jetzt machen wir Vernissage und gehen von Blatt zu Blatt, schauen uns die Vorschläge und Kommentare an.»

Am dichtesten waren blaue und grüne Farbe um den Satz „Für erfüllte Wünsche und passende Vorsätze“ gruppiert, dazu gab es diverse Untervarianten. Die Kommentare zeigten, dass Wünsche etwas spezielles sind – die unerfüllten, vielleicht auch unerfüllbaren Wünsche, erst recht die geheimen Wünsche sollen nach der Meinung der blauen Anmerkungen nicht mit einer Grusskarte angesprochen werden. In diesem Bereich hatte es auf der Wand kaum mehr Blautöne. Und erst recht bei den Vorsätzen: das Wort Vorsätze – eindeutig in grün ausgedrückt – hat auf einer Grusskarte nichts zu suchen.

Zum Schluss wandte sich die Gruppe «Frohe Festtage. Ein gutes Neues Jahr.» zu. Sehr weniges in grün, etwa «etwas billig», oder «gewöhnlich». Eindeutig dominant waren die blauen Anmerkungen. Da hiess es etwa: «neutral, lässt den LeserInnen genügend Interpretationsraum», oder «zurückhaltend, passt auch für solche, denen es gerade im Moment nicht so super geht».

Holger nahm einen blauen Stift zur Hand, schrieb «OK» und sein Kürzel hinter die gewohnte Grusskarten-Inschrift, die anderen fünf Gruppenmitglieder taten es ihm nach. Gemeinsam wurde das grosse Blatt von der Wand abgenommen und in feierlicher Prozession im Büro von Maude abgeliefert.

* * *

Maude war zwar immer noch nicht vollständig überzeugt vom immer gleichen Kartentext, aber sie wollte sich nicht über die einstimmige Meinungsäusserung der Task Force Grusskarte hinwegsetzen. «Wetten», meinte beim Nachmittagskaffee ihre „rechte Hand“ Claude, «wenn Du einer anderen Gruppe nächstes Jahr wieder den gleichen Auftrag gibst, wird wieder das gleiche herauskommen, und wir werden wieder „Frohe Festtage. Ein gutes Neues Jahr“ auf unsere Grusskarte drucken.»

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