Zürichsee für Blauwale

In der Gratiszeitung am Abend stand es zuerst: der Zoo Zürich plane, im Zürichsee zwei Blauwale anzusiedeln. Die meisten Leute, die diese Kurzmeldung lasen, schauten zuerst auf das Datum. Nein, es war nicht der erste April.

Am nächsten Morgen standen auch im Tages-Anzeiger und in der NZZ kurze Notizen, mit dem Hinweis, dass der Zoo morgen im Detail informieren werde. Die staunenden Leserinnen und Leser erfuhren in den Artikel auch etwas mehr über Blauwale, allerdings nicht viel mehr als das, was auch in den Lexiken steht: über dreissig Meter lang, zweihundert Tonnen schwer – das grösste Tier, das je auf dem Planeten Erde gelebt hat. Das riesige Säugetier kommt in allen Meeren vor, es bewegt sich zwischen den eher wärmeren Meeren, wo die Jungen zur Welt kommen und den kühleren polaren Gewässern, wo sich Blauwale vor allen von Plankton, bevorzugt von Kleinstkrebsen, ernähren – das braucht einen grossen Lebensraum.

Am späteren Abend fand im Zürcher Rathaus eine Sitzung des Gemeinderates statt – und fast alle Fraktionen meldeten sich zu den Blauwalen im Zürichsee, die einen schon fast euphorisch, die andern aus Prinzip dagegen.

Alle Sitzplätze im Zoo-Vortragsaal waren besetzt, als der Zoodirektor die Medienkonferenz am nächsten Morgen um 10 Uhr eröffnete – trotz des grossen Echos waren allerdings nur Vertreterinnen und Vertreter von Medien aus der Schweiz angereist. Man erfuhr auch bald warum: alle Zoos von Städten an grossen Seen beteiligten sich an einem Erhaltungsprogramm für Blauwale – immer noch war noch nicht sicher, dass die zwischen zehn- und zwanzigtausend im Meer lebenden Tiere für den dauerhaften Erhalt der Art ausreichten.

Der Direktor kam gerade zu Beginn auf das eigentlich einzige Problem zu sprechen bei diesem Versuch: der Zürichsee eignet sich nämlich gar nicht für Blauwale! Er ist zu klein, hat nicht die richtige Temperatur je nach Jahreszeit. Und vor allem handelt es sich beim Zürichsee um einen Süsswassersee – und der von Walen bevorzugte antarktische Krill, diese Kleinstkrebse, kommt im Zürichsee nicht mal in Spuren vor, und überhaupt nicht in den Mengen, die zwei Blauwale benötigen.

Der Zoo Zürich hat zusammen mit anderen Zoos bereits abgeklärt, was getan werden muss, um den Zürichsee in ein Gewässer für Blauwale zu verwandeln. Vorerst machte der Direktor klar, dass dies allerdings nur funktioniert, wenn alle, aber wirklich alle Menschen in der Grossregion um den Zürichsee mitmachen. Professorin Lochte vom Potsdamer Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung informierte, was die Zürcherinnen und Zürcher tun müssten, um die Blauwale willkommen heissen zu können. Um ideale Wachstumsbedingungen für die Krillkrebse zu ermöglichen, müssen während mehreren Monaten im Jahr grosse Mengen von Eiswürfeln in den Zürichsee geschüttet werden. Es werden 200’000 Haushalte gesucht, die mindestens während eines Monats pro Jahr täglich fünf Liter Eiswürfel in ihrem Kühlschrank produzieren und dies an die Sammelstellen an den Schifffahrtsstationen bringen. Ebenso viele Haushalte braucht es, um in anderen Jahreszeiten heisses Wasser bereitzustellen, welches erforderlich ist, um gewisse Bereiche des Zürichsees so aufzuwärmen, dass ideale Aufzuchtbedingungen für die sich hoffentlich bald einstellenden Blauwal-Babys ergeben. Das warme Wasser ist jeweils bis morgen um 9 Uhr in einer grossen Thermoskanne bei den speziellen Transportschiffen abzugeben. Eine halbe Million Haushalte sollten sich dafür verpflichten, ebenfalls während mindestens einem Monat pro Jahr in ihren Badewannen Krill-Krebse zu züchten. Etwa 30’000 Haushalte braucht es für regelmässige Salzlieferungen; gleichzeitig berichtete der zuständige Stadtrat, dass beim Landesmuseum mit direktem Anschluss an die S5 im Hauptbahnhof eine Einrichtung eingebaut werde, die es ermögliche, das Salz aus dem Zürichseewasser zurückzugewinnen und nach Rapperswil zu transportieren. Weil sowohl die Eisbereitung, das Wasserkochen, die Krill-Zucht und die Zürichseesalzerei einiges an Energie brauche, werde auf dem Sihlsee eine schwimmende Solarzellenanlage eingerichtet, die den Mehrstromverbrauch abdecken werde.

Der Zoo-Direktor wies darauf hin, dass es zumindest in der Eingewöhnungsphase und dann jeweils in den beiden ersten Lebensmonaten der Babywale nötig sei, sämtlichen Schiffsverkehr auf dem Zürichsee einzustellen, auch die Fähre zwischen Horgen und Meilen. Allenfalls werde sich nach einiger Zeit zeigen, dass man darauf auch verzichten könne.

Die Journalisten und Journalistinnen zeigten sich sehr begeistert von der Umgestaltung des Zürichsees als Lebensraum für das grösste Lebewesen der Erde. Die einzige Frage: gibt es genügend Haushalte, die sich für die intensive Begleitung der Lebensraumgestaltung melden? Frau Professorin Lochte meinte, dies sei genau die Aufgabe der Medien, und gab verschiedene Internet-Adressen an, bei der sich Interessierte melden konnte.

Rund um den Zürichsee gab es während Wochen nur noch ein Thema: sind die Zürcherinnen und Zürcher in der Lage, für zwei Wale zu sorgen. Die Parlamente und Gemeindeversammlungen in den Städten und Gemeinden um den See liefen heiss vor lauter Vorstössen zu diesem Thema, sowohl ablehnend wie befürwortend. In den Medien wurde jeden Morgen über den Zwischenstand der Anzahl Haushalte informiert, die sich bereits für das Projekt «Zürichsee für Blauwale» verpflichtet hatte – und es schien, als sei es möglich, die erforderliche Zahl von Haushalten zu erreichen.

Vier Wochen später lud der Zoo Zürich, wiederum gleichzeitig mit den anderen Städten, zu einer Medienkonferenz, wieder mit grosser Beteiligung. Der Zoo-Direktor bedankte sich vorerst für das riesige Interesse von Medien und Öffentlichkeit – er war begeistert, welches Echo derart herausfordernde Projekte auslösen könnten.

Plötzlich wurde es hell im Saal, die Zahlen der teilnehmenden Haushalte verblassten auf den Projektionsbildschirmen.

Meine Damen und Herren. Ich muss Sie enttäuschen: es wird NIE Blauwale im Zürichsee geben. Wir Menschen sind nicht in der Lage, für das grösste Lebewesen des Planeten Erde neue, künstliche Lebensräume zu schaffen – Wale brauchen die Weite der Weltmeere! Auf die Idee für diese Aktion hat uns eine Meldung in einer Zeitung gebracht: ein Wissenschaftler hat ausgerechnet, ob es möglich ist, Menschen die Reise in ein anderes Sonnensystem zu ermöglichen – zum Beispiel, weil der Planet Erde unbewohnbar gemacht würde durch die Aktivitäten der Menschen. 200 Jahre lang müssten die Erdenbewohner alle verfügbare Energie zusammensammeln, um nur 500 Menschen die ungewisse Reise zu einem anderen Sonnensystem, welche mehrere hundert Jahre dauern würde, zu ermöglichen!

Das heisst: weil wir weder künstliche Lebensräume für Blauwale schaffen noch andere Planeten für die gesamte Menschheit verfügbar machen können, müssen wir Sorge tragen zum einzigen Planeten, den wir haben! Statt den Zürichsee für Blauwale umzugestalten, müssen auch die Menschen um den Zürichsee aktiv werden, um das Leben von Mensch und Tier auf dem Planeten Erde zu ermöglichen. Wir hoffen, dass die Haushalte, die sich für das Projekt «Zürichsee für Blauwale» engagiert haben, auch weiterhin Beiträge für den Lebensraum Erde leisten.

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