Lia redet mit den Händen. Sie kann nicht hören, sie kann nicht reden. Lia kann zwar von den Lippen lesen, wenn die Menschen mit ihr reden. Aber am liebsten redet sie mit den Händen, liest von den Händen anderer, was sie ihr erzählen. Ganz flink bewegen sich die Finger, wenn Lia eine Geschichte erzählt. Wenn sie aber mit ihrem kleinen Bruder mit den Händen redet, macht sie ganz langsame, deutliche Bewegungen, denn ihr Bruder ist erst zwei. Er lernt die Wörter immer zweimal: zuerst spricht er sie nach, und gleichzeitig zeigen ihm Vater und Mutter die Hand- und Fingerbewegungen dazu. Wenn Tanten und Onkel oder die Grosseltern zu Besuch sind, staunen sie, wie sich Lia und ihr Bruder Marco mit den Händen verständigen – es ist fast wie eine Geheimsprache.

Zu Weihnachten haben die Eltern Lia eine grosse Trommel geschenkt. Zuerst war Lia enttäuscht. Ein Musikinstrument! Die Eltern sollten doch eigentlich wissen, dass sie Musik nicht hören kann. Die Trommel ist so gross, dass Lia sie mit den Beinen und dem Oberkörper halten muss. Beim ersten Schlag auf das Fell merkt Lia, dass sie die Trommel zwar nicht hört, aber sie kann sie spüren. Wenn sie ganz sanft trommelt, spürt sie wenig. Schlägt sie kräftig auf die Trommel ein, kann sie die Schläge in ihrem Körper deutlich fühlen. Mit der Zeit lernt Lia, wie fest sie auf die Trommel schlagen kann, damit sich die Eltern und ihr Bruder nicht die Ohren zuhalten müssen. Wenn Lia gut gelaunt ist, spürt sich die Trommel anders an als wenn sie traurig ist.

An einem Tag liegt Lia krank im Bett. Um Milch und Brot zu kaufen, muss der Vater rasch ins Dorf. Marco bleibt zu Hause und schaut mit Lia zusammen ein schönes Bilderbuch an. Plötzlich springt er davon. Lia vermutet, dass das Telefon geklingelt hat. Wo bleibt er wohl? Trotz ihrem schmerzenden Kopf geht sie auf die Suche nach Marco. Da liegt er auf dem Boden und reagiert nicht auf ihre Zeichen. Wahrscheinlich war er zu schnell und hat sich am Türrahmen den Kopf angeschlagen. Da nimmt Lia ihre Trommel und beginnt ganz schnell und heftig auf sie einzuschlagen. Schon nach kurzer Zeit steht die Nachbarin in der Wohnung und kümmert sich um den verletzten Marco. Lia freut sich, als er endlich die Augen aufschlägt und sie staunend ansieht – er weiss nicht, was passiert ist. Als der Vater vom Einkauf zurückkommt, erzählt die Nachbarin, dass sie plötzlich ein Getrommel gehört hat, das wie ein Hilfeschrei getönt habe – sie musste alles liegen und stehen lassen, so eindringlich habe die Trommel geklungen!