Simone geniesst ihren arbeitsfreien Geburtstagsmorgen. Eigentlich, sinniert sie, als sie am Morgen noch etwas länger im Bett liegen bleibt, ist es ein gutes Geburtstagsdatum. Schon genug weit weg von Weihnachten, damit es nicht nur ein Geschenk gab – das ist gleichzeitig für Geburtstag und Weihnachten, hatte ihr Bruder, der Mitte Dezember Geburtstag feierte, so häufig zu hören bekommen. Nein, sie hatte immer zwei Geschenke bekommen. Und zudem, so gegen Ende Januar, da werden die Tage bereits spürbar länger.
Doch – irgendetwas fehlt an diesem Geburtstagsmorgen. Nein, es sind nicht die Glückwünsche, die kommen so oder so immer später am Tag per Post oder Telefon, und die Mails hat Simone noch nicht angeschaut. Nein, auch an den Frühstücksdüften liegt es nicht, für das ist es noch zu früh. Es wird bereits hell draussen, ein herrlicher Tag soll es werden, wenn der blaue Himmel nicht trügt. Das kann es also nicht sein, was fehlt. Simone grübelt noch ein bisschen. Ja genau: das Geburtstagsständchen fehlt, das jubilierende und jauchzende Amselkonzert ist heute Morgen nicht zu hören. Seit Jahren vertritt Simone die Ansicht, dass die Amseln immer an ihrem Geburtstag mit ihren Morgenliedern beginnen – und bis jetzt hat sie niemanden in ihrem Bekanntenkreis gefunden, der ihr widersprechen wollte. Sie hat ja schliesslich Geburtstag.
Aber heute morgen, da fehlt das Amselkonzert. Schade, Simone freut sich nämlich auf diesen klingenden Vorfrühlingsboten, sie geniesst den abwechslungsreichen und eingängigen Gesang. Nun meldet sich langsam der Hunger, Simone erhebt sich aus dem Bett, macht Morgentoilette, bereitet sich ihr ganz privates Zmorgebuffet zu – und vergisst dabei das Vogelkonzert.
Als ihr gegen Abend ihr Bruder zum Gratulieren anruft, kommt es ihr wieder in den Sinn. Robi, Du glaubst es nicht, aber heute Morgen gab es kein Amselkonzert. Das hat es noch nie gegeben an meinem Geburtstag. – Hast Du mir nicht erzählt, dass im Herbst der grosse Kirschenbaum vor dem Haus gefällt wurde? Dort in den obersten ästen sass wahrscheinlich die Konzert-Amsel, und weil jetzt der Baum weg ist, ist auch die Amselbühne weg. Und weil Euer Haus ein Flachdach hat, gibt es in der Nähe keinen Ersatz.
Nach dem Telefon mit Robi schreibt Simone eine kurze Notiz in ihre Agenda: ãDachgartenÒ. Ein altes Projekt der Hausgemeinschaft – das riesige Flachdach lädt gerade dazu ein, eine grüne Oase zu schaffen. Bereits in den nächsten Tagen sucht Simone die alten Pläne hervor, beginnt zu rechnen, zu zeichnen, zu vergleichen. An der Versammlung der Wohnungseigentümer im Mai kann sie ein Projekt vorlegen – nachdem noch einige Sonnenkollektoren dazugekommen sind, findet sich auch die notwendige Mehrheit für den Beschluss.
Eines Tages im Herbst fahren einige Lastwagen vor, zusammen mit einem grossen Pneukran. Platten, Kisten mit Erde, Abdeckmatten und vieles mehr werden auf das Dach transportiert. Nach einigen Tagen Baulärm stehen andere Fahrzeuge vor dem Haus, jetzt werden die Pflanzen aufs Dach gebracht und eingepflanzt. Bei einem grossen Strauch steht als Stütze ein besonders langer Pfahl – die Fachleute meinen, dass sich dies als Bühne für einen Amselsänger eignen sollte.
Am nächsten Geburtstagsmorgen erwacht Simone – mit einem Geburtstagsständchen.