Weihnachtsgeschichten

Wie jedes Jahr trifft sicht die ganze Familie am Weihnachtsabend. Als es eindunkelt, sind alle Vorbereitungen für das Weihnachtsessen abgeschlossen. Noch ist es zu früh für das festliche Essen. Eine wachsende Runde versammelt sich im grossen Wohnzimmer.

Inga, Du hast doch eine Seminararbeit geschrieben zur Tradition der Geschichtenerzähler. Erzähl uns doch bitte eine Geschichte. Nickend und murmelnd schliesst sich die Runde dem Wunsch von Seibel, dem Bruder von Inga, an. Noch ziert sich Inga, doch eigentlich freut sie sich über diese Bitte. Denn erzählen ist ihre Leidenschaft.

Erzähler haben eine sehr lange Tradition, in Urzeiten gab es nämlich weder die Schrift noch Medien, auch Fotos und Tonaufnahmen waren unbekannt. Das gesprochene Wort stand für sich allein.

Ich erzähle Euch jetzt die Weihnachtsgeschichte, und zwar zusammen mit meinen Regieanweisungen an mich als Erzählerin. Sitzt Ihr alle so bequem, dass es auch in einer Stunde noch bequem ist? Plagen Euch keine Bedürfnisse? Das ist wichtig, denn Ihr müsst Euch auf die Ge-schichte einlassen, müsst ihr mit Leib und Seele folgen. So, dann geht es jetzt los.

Im Dorf Nazareth in Galiläa lebte Maria. Sie war schwanger, und im Dorf munkelte man verschiedenes über den Vater dieses Kindes. Auch wenn Maria und ihr Verlobter Josef allen, die es wissen wollten, vom Besuch eines Himmelsboten und seiner Botschaft berichteten, so richtig konnten sich die Dorfbewohner die Sache nicht erklären. Und Ihr wisst, diese Zweifel halten sich heute noch, mehr als zweitausend Jahre später. Nun, diese Gerüchte wären eine eigene Geschichte, ich aber will Euch erzählen von der Reise, die die beiden unternehmen mussten, wie viele andere Zeitgenossen. Weil es der Kaiser so wollte, mussten sich alle in die Steuerregister ihrer Heimatstädte eintragen lassen. Josef und Maria hatten sich in Bethlehem in Judäa, der Stadt Davids, zu melden. Das sind etwas mehr als hundert Kilometer. Eine kleine Sache eigentlich, so rasch mit dem Zug.

Murren in der Runde.

Ah ja, richtig, es gab ja damals gar keinen Zug. Also zu Fuss oder auf dem Rücken eines Esels. Was denkt ihr, wie lange braucht man für hundert Kilometer per Esel? Josef wollte Maria etwas schonen, schliesslich war es wenige Tage vor dem Geburtstermin. So mit etwa drei bis vier Tagen ist schon zu rechnen. Und jetzt muss ich euch, die Ihr da so bequem in Euren Sesseln sitzt, die Beschwernisse dieser Reise schildern. Stellt Euch die damaligen Wege vor, ganz staubig, jeder leichte Windstoss wirbelt Staub auf, er dringt überall ein, es knirscht zwischen den Zähnen. Wenn es regnet, werden die Wege schlammig und rutschig, jeder Schritt wird zur Qual. Unterwegs hat es keine Brunnen, und beliebig viel Wasser lässt sich nicht mitnehmen. Gasthäuser gibt es nur ganz wenige, da bleibt nur die Uebernachtung draussen, irgendwo unter einem Baum. Maria und Josef leiden auf ihrem Weg nach Bethlehem, die schwangere Maria ganz besonders. Endlich, gegen Abend des vierten Tages, sehen sie in der Abendsonne ihr Ziel. Josef ermuntert Maria. Hier in dieser Stadt werden wir sicher eine gute Uebernachtungsmöglichkeit finden. Maria schweigt. Sie ist müde, und manchmal muss sie auf die Zähne beissen, sie spürt die ersten Wehen. Davon sagt sie Josef allerdings nichts. Und jetzt muss ich als Erzählerin beginnen, Euch gegen die Hoteliers von Bethlehem einzustimmen. Stellt Euch vor, Ihr habt ein Hotel. Alles ist ausgebucht, regelmässig klopfen Leute an die Tür und suchen eine Uebernachtungsmöglichkeit. Und jetzt habt Ihr genau zwei Möglichkeiten: entweder improvisiert Ihr jetzt und zaubert irgendwelche Uebernachtungsmöglichkeiten herbei. Nicht gerade gastfreundlich, denn das sind nur unbequeme Läger. Oder Ihr risikiert, in der Bibel als ungastlich verewigt zu werden, auf ewig als abschreckende Beispiele Eurer Branche abgestempelt.

Nun, nach der langen Herbergssuche landen Maria und Josef in einem schäbigen Stall, teilen ihn mit Ochs und Esel. Eigentlich eine gute Nachbarschaft, sind doch das die Mobilitätsträger der damaligen Zeit. Hier in diesem Stall bringt Maria ihr Kind auf die Welt. Dies gibt uns die Gelegenheit, die Improvisationsfähigkeit der damaligen Zeit zu bewundern: eine Futterkrippe dient als Ersatz für das Kinderbett, statt einer Matraze verwenden Maria und Josef Heu. In der Bibel steht, dass Jesus direkter Nachfahre der alttestamentlichen Helden Abraham und König David ist. Das bietet Stoff für viele, viele Weihnachtspredigten, aber nicht hier, schliesslich ist das eine Weihnachtsgeschichte.

Jetzt stehe ich vor der grössten Herausforderung als Geschichtenerzählerin. Ich muss Euch multimedial verwöhnte Gesellschaft gleichzeitig beeindrucken, erschrecken und beruhigen. Da sitzen Hirten bei ihren Herden. Weil es schon spät ist, glimmen die Feuer nur noch ganz wenig. Auch die Schafe ruhen. Eine höchst beschauliche Stimmung. Und PLÖTZLICH: Licht, blendendes Licht, riesige Scharen von Engelsboten, Himmelsklang in den Lüften. Und einer dieser Engel tritt auf die Hirten zu. Könnt Ihr Euch vorstellen, wie die Hirten erschrecken, auch wenn die Szenerie sehr romantisch inszeniert ist. Als Krönung noch die laute Stimme dieses hell beleuchteten Himmelsgeschöpfes. Ist der erste Satz wirklich beruhigend? «Habt keine Angst!» Die Hirten sind immer noch geschockt von der plötzlichen Störung. Verstehen sie die himmlische Botschaft? Alle Ehre gehört Gott im Himmel. Sein Frieden kommt auf die Erde zu den Menschen, weil er sie liebt! Könnt Ihr euch das vorstellen? Das ist wie grosse Oper und Welttheater zusammen! Aber ist die Botschaft wirklich angekommen? Das mit dem Frieden haben irgendwie die Menschen nicht richtig verstanden. Die Hirten auf jeden Fall tun das, was ihnen gesagt wurde: sie brechen sofort auf, finden den Stall, finden das Neugeborene, dessen Mutter und Vater. Und nicht nur die Hirten und die neue Familie sind beeindruckt von diesen Ereignissen – ich nehme an, auch Ihr als meine Zuhörerinnen und Zuhörer seid es!

Für einen Moment wird es ganz ruhig im Wohnzimmer. Es ist, wie wenn die Runde sich aus der Erzählung in die Gegenwart zurückfinden müsste. Zögernd kommt anerkennender Applaus auf. So habe ich die Weihnachtsgeschichte noch nie gehört, meint Seibel, bis jetzt waren das für mich nur Worte. Du hast die gleichen Worte genommen und hast mich sowohl unterhalten als auch diese Geschichte miterleben lassen. Und Du hast Bilder zu dieser Weihnachtsgeschichte gezeichnet, die ich mir bis jetzt nie vorgestellt habe.

Jetzt ist Zeit für das Weihnachtsessen!

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