Die Tannen über dem Dorf

Das Wetter ist in diesen Tagen im August nicht einfach Einstiegsthema, wenn man sich im Dorf trifft. Seit Tagen regnet es in Strömen, und die Blicke gehen häufig hangaufwärts. Dort rauscht hinter einem tannenbewachsenen Damm der Bach aus dem Steintal ins Tal hinunter. Den Damm haben die Dorfbewohner vor mehr als achtzig Jahren gebaut. Zum Schutze des Bauwerks wurden hunderte von Tannen gesetzt. Die alten Geschichten erzählen von einer Flut, als der Steinbach bei einem grossen Tauwetter am Hang oben sein Bett verliess und als reissender Strom eine verheerende Spur durchs Dorf zog. Weil dies mitten in der Nacht geschah, starb damals die halbe Dorfbevölkerung. Viele waren damals weggezogen. Jene, die blieben, wollten sich und ihre Nachfahren vor ähnlichen Gefahren schützen und bauten darum unterstützt von freiwilligen Helfenden aus der ganzen Gegend einen fast hundert Meter langen und gegen acht Meter hohen Erdwall.

Stündlich werden die Blicke den Hang hinauf besorgter, denn die Feuerwehr meldet, dass die Fluten aus dem Steintal das Profil schon fast vollständig ausfüllten und mit voller Wucht am Damm zehrten. Vor allem eine Stelle sei besonders gefährdet: dort, wo die wilden Wasser, Steine und Holz mit sich führend, auf den schützenden Wall prallten. Dort stehe eine alte Tanne, dahinter ein junger Baum. Nur wenn das Wurzelwerk dieser Bäume den Wassermassen Stand halten könne, werde es nicht zu einer Flut kommen. Die Versuche, den Widerstand der grossen Tanne zu unterstützen, seien erfolglos, denn die Sandsäcke würden immer wieder vom Wasser mitgerissen. Betet und hofft, das ist das einzige, was uns noch helfen kann in dieser Situation, schlossen die Berichte der erschöpften Feuerwehrleute, wenn sie nach langer Nachtwehr ihren Häusern zuschlurften.

Die Behörden raten, das Dorf zu verlasssen. Vor allem Familien, deren Kinder so oder so jeden Tag für den Schulbesuch ins Nachbardorf ziehen, suchen und finden Unterschlupf bei Verwandten und Bekannten. Viele wollen bleiben, sei es, um das eigene Haus mit Sandsäcken, Steinen und Brettern zu schützen, oder die Feuerwehrleute zu unterstützen. Vielleicht auch, um den existenzsichernden Bäume mit wohlwollenden Gedanken möglichst nahe zu sein? Der Damm hält! Auch wenn der kleinere der Schutzbäume an der exponierten Stelle fast vollständig unter Wasser gerät, bleiben die Bäume standfest.

Endlich hört der Regen auf, nach Tagen beginnt der Pegel des Steinbachs zu sinken. Das Aufatmen geht hörbar durch das Dorf. Schon bald nehmen die Dinge wieder ihren alltäglichen Lauf, die Blicke zu den Tannen oben am Hang über dem Dorf werden seltener.

Mit den ersten Schneeflocken Mitte November wird es wieder anders. Wenn Menschen zu zweit oder in Grüppchen zusammenstehen, blicken sie wieder häufiger den Hang hinauf, zeigen auf die Tannen. Nur sind es diesmal keine besorgten Blicke, sondern fröhliche, entspannte Gesichter. Es reift ein Plan.

Am ersten Adventssonntag leuchten die Tannen auf dem Schutzdamm in weihnächtlichem Schmuck. Statt an ihren Häusern und Gärten haben die Dorfbewohnenden ihre Weihnachtsbeleuchtungen für die Dekoration der wehrhaften Bäume verwendet. Im ganzen Land wird über diesen Dank an den Schutzwald berichtet.

Am 24. Dezember, kurz nach dem Eindunkeln, treffen sich die Menschen aus dem Dorf bei ihren Schutzbäumen. Sie haben warme Getränke und Weihnachtsgebäck mitgebracht. Nach diesem Überschwemmungssommer haben viele das Bedürfnis, vor den fröhlichen Familienfesten einen Moment bei jenen Bäumen zu verbringen, die das Dorf und ihr Haus vor den verheerenden Fluten geschützt haben.
In den Gesprächen entsteht immer wieder der gleiche Gedanke: welchen Schutz brauchen diese Bäume, damit sie auch in Zukunft Mensch und Natur vor den Gewalten der Natur schützen können?

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert