Heiligabend 19 Uhr 32. Die Postenchefin setzt sich mit einem Stossseufzer an den Tisch. Endlich etwas ruhiger nach dem hektischen Nachmittag vor Weihnachten. Mit den zwei Frauen und drei Männern, die mit ihr für den heutigen Pikettdienst eingeteilt sind, möchte sie in den nächsten 15 Minuten einen Imbiss geniessen können, etwas gediegener als an einem normalen Arbeitstag. Auf dem Tisch liegt ganz unüblich ein schönes Tischtuch, in der Mitte flackern einige Kerzen.
Als sie zum Löffel in der Sellerie-Salat-Schüssel greift, beginnt das Telefon zu piepsen, und zwar jenes an der «roten» Leitung, also für die ganz dringenden Fälle. «Sara, wir haben hier eine Vermisstmeldung. Ein 11-jähriger Knabe wird seit eineinhalb Stunden vermisst. Die Eltern vermuten, dass er sich irgendwo versteckt. Er hat sein Keyboard und einige Kerzen mitgenommen. Der Vermisste wohnt mit seinen Eltern im Grautal-Quartier, Bachstrasse 17. Könnt Ihr mal hingehen?» Sara gibt die Meldung ihren Kolleginnen und Kollegen weiter. «Nehmt wenigstens ein Brötchen und einige Äpfel mit. Es könnte länger dauern. Wir treffen uns in einer Viertelstunde bei den Eltern. Wir werden dort die Suchsektoren einteilen, wenn wir die Lieblingsplätze des Jungen kennen.»
Eine halbe Stunde später sind die drei Suchteams unterwegs. Zuerst mussten sie die Eltern überreden, einfach zu Hause zu warten und alles für die Rückkehr des Ausreissers vorzubereiten. Auf den Karten haben die Suchteams die Route eingetragen, mit den Spielplätzen, dem Schulhaus-Pausenplatz, den Häusern der Schulkollegen. Den Wald über dem Quartier haben sie von der Suche ausgenommen. «Ein so kleiner Junge traut sich doch nicht in den Wald bei dieser Dunkelheit. Und achtet auf Töne von einem Keyboard. Wir treffen uns wieder hier in genau einer Stunde.»
Es kam kein Funkspruch mit der erlösenden Meldung, dass der Junge gefunden worden sei. «Wenn er nicht irgendwo in einem dunklen Keller oder Estrich sitzt, dann ist er nicht hier im Quartier.» So die einhellige Meinung der Suchteams.
«Mir ist unterdessen eine Idee gekommen», wendet sich die verzweifelte Mutter an die PolizistInnen. «Sie haben vorhin den Wald von der Suche ausgenommen. Wir gehen mit Lasse häufig in den Wald. An einigen Punkten gefällt es ihm besonders gut, beispielsweise beim öffentlichen Grillplatz, bei der Bachquelle oder ganz am Ende des Tals.» Es wird beschlossen, dass die Teams sich nochmals auf die Suche begeben und vor allem im Wald suchen.
Leichter Schneefall hat eingesetzt, die Fahrbahnen sind bereits rutschig, und es ist deutlich kälter geworden. Alle wissen: jetzt ist besondere Eile angesagt. Wenn der Junge bis in einer halben Stunde nicht gefunden ist, muss Grossalarm ausgelöst werden. Und das ausgerechnet am Heilig Abend!
Team 1 hat es übernommen, am weitest entfernten Punkt zu suchen. 500 Meter vor der kleinen Lichtung gehts mit dem Polizeifahrzeug nicht mehr weiter. Sie legen den steilen, glitschigen Weg zu Fuss zurück. Als sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, wirkt die Landschaft sehr reizvoll. Die leise rieselnden Schneeflocken glitzern im spärlichen Licht der Taschenlampen, die verschneiten Waldbäume bilden eine märchenhafte Kulisse.
Da, ein Reh bricht aus dem Unterholz, knapp vor den beiden PolizistInnen. Hoppelt weiter vorne nicht ein Hase? «Hör mal!» Die beiden bleiben stehen, heftig atmend. Gelegentlich sind feine Geräuschfetzen zu hören, lassen Melodien erahnen. Sie gehen weiter, auf die Töne zu. Da vorne rechts, ist das nicht ein neuer Lichtschein? Nach einigen weiteren Schritten bleiben sie staunend stehen. Bei der Futterhütte am Rand der Lichtung brennen einige Kerzen. Aus dieser Richtung kommen auch die Töne eindeutig «Stille Nacht, heilige Nacht». Noch einige Schritte weiter. Dort sitzt der Knabe vor seinem Keyboard und spielt Weihnachtslieder. Ganz verzaubert hören die Polizistin und der Polizist zu, vergessen fast ihren Auftrag. Und ist dies hinter jenem Baum nicht das Reh, das vorhin über die Strasse huschte und jetzt auch der Musik zu lauschen scheint?
Flüsternd verständigen sich die PolizistInnen. Sie möchten den Jungen nicht erschrecken und entscheiden daher, in das Lied einzustimmen und sich langsam auf Lasse zuzubewegen. Gleichzeitig mit dem mächtigen Schlussakkord treffen die singenden PolizistInnen beim Knaben ein.
«Lasse, das hat gut getönt, aber Du hast viele Menschen erschreckt, weil Du davongelaufen bist und Dich hier versteckt hast. Jetzt sind wir einfach froh, dass wir Dich gefunden haben. Komm, lass uns gehen, wir bringen Dich zu Deinen Eltern zurück.»
Auf dem Weg zum Auto ist Lasse ganz still, während über Funk die frohe Meldung vom gefunden Kind weitergereicht wird. Erst in der warmen Stube, in den Armen von Vater und Mutter, taut Lasse auf.
«Alle Nachbarn klopfen dauernd an die Wände, an den Boden und an die Decke, wenn ich mit meinem Instrument übe. Heute abend wollte ich all die schönen Weihnachtslieder ohne dieses falsche Geklopfe spielen können. Dort oben im Wald war ich ganz ungestört, es war so schön.» Vater und Mutter schauen sich an, versprechen, mit den NachbarInnen eine Lösung zu suchen, damit Lasse auch zu Hause ungestört mit dem Klavier üben kann.
«Das war ja eine echte Weihnachtsgeschichte», meint Sara, als sie etwas später aufatmend zum Salatbesteck greift.