Nein, diesen Satz kann ich nicht lesen! flüsterte Riccardo und blickte hilfesuchend zu seinem Lehrer. Die zweitletzte Schulstunde dieses Jahres war es, und zur Vorbereitung auf die Weihnachtszeit hatten die Schüler gewüscht, sich gegenseitig die uralte Weihnachtsgeschichte vorzulesen. Birgit hatte begonnen, hatte von den Hirten auf dem Feld berichtet, die vor Bethlehem ihre Schafe hüteten. Riccardo hatte übernommen, hatte die Sätze gelesen von den Engeln, die vom Himmel herab kamen. Jetzt sollte er wiederholen, was der grösste Engel den erschrockenen Hirten mitteilte. Das konnte er nicht.
Langsam liess er seinen Kopf auf die Arme sinken.
Riccardo, warum kannst Du nicht weiterlesen?
Herr Gross, muss ich wirklich? Kann nicht einfach Melanie weiterlesen?
Nein, ich finde es wichtig, von Dir zu hören, was Dich am Weiterlesen hindert.
Es ist, hmm, ja, jetzt käme doch das vom Frieden und der Freude, und das steht schon seit mehr als 2000 Jahren in der Weihnachtsgeschichte. Da müssten doch Friede und Freude längst hier sein. Aber wenn ich die Zeitungen anschaue, die Nachrichten höre, dann wird dies doch immer schlimmer. Kriege überall, die Natur geht kaputt, nichts also von Friede und Freude. Und als ich die beiden Worte gelesen habe in der Geschichte, da konnte ich nicht weiterlesen.
Melanie meldet sich. Mir gehts auch so, ich bin so froh, dass ich diesen Abschnitt nicht lesen musste. Viele in der Klasse nicken.
Peter Gross schaut nachdenklich von Kind zu Kind. Keines senkt die Augen, alle sind gleicher Ansicht wie Melanie, wie Riccardo. Wir lesen im Moment nicht weiter. Kommt alle nach vorn, nehmt Euch eine Kreide und schreibt auf die Tafel, was für Euch gegen den Frieden, gegen die Freude steht.
Ganz ruhig stehen die Schülerinnen und Schüler auf, gehen langsam zur Tafel, nehmen sich Kreidestücke, schreiben auf die schwarze Wand, was sie bewegt.
So, jetzt geht Ihr wieder an Euren Platz, schaut Euch gut an, was Ihr alle an die Tafel geschrieben habt.
Ganz ruhig ist es in der Klasse, konzentriert lesen alle. Hin und wieder nicken die einen, andere schütteln gelegentlich den Kopf.
Jetzt drehe ich die Tafel um. Ihr könnt wieder nach vorne kommen und aufschreiben, was Eurer Ansicht nach Frieden und Freude fördert. Wenn Ihr fertig geschrieben habt, macht Ihr einen grossen Halbkreis vor der Tafel.
Jetzt gehts schon ein bisschen lebendiger und lauter zu in der Klasse von Lehrer Gross. Das wollte ich auch gerade schreiben, flüstert Corinne, als sie zusieht, wie Philipp mit gelber Kreide ãlachenÒ an die Tafel malt. Als plötzlich ãHand in HandÒ im unteren linken Eck steht, müssen einige kichern. Bald hat es fast keinen Platz mehr, und alle stehen im Halbkreis und lesen die Worte.
Ihr nehmt wieder eine Kreide und macht bei den für Euch 10 wichtigsten Sachen einen farbigen Punkt. Dann könnt Ihr wieder absitzen.
Zuerst traut sich niemand an die Tafel, aber als Fränzi und Sabine, die beiden Unzertrennlichen, ihre Punkte, blau und grün, verteilen, geht es plötzlich sehr lebhaft zu und her. Und jene, die ihre Punkte verteilt haben, lassen sich auf dem Rückweg zu ihrem Stuhl Zeit, stehen zusammen, diskutieren die Punkteverteilung.
Peter Gross bittet um Ruhe. Ich bin beeindruckt von Euren Vorschlägen für Frieden und Freude. Habt Ihr etwas festgestellt?
Ja, meldet sich Riccardo, wir müssen immer etwas tun, damit Friede und Freude eine Chance haben, nein, nicht wir, sondern ich.
Melina ergänzt: es braucht sehr viel für Frieden und Freude, und ich weiss nicht, was davon am wichtigsten ist, es braucht wahrscheinlich alles, vielleicht noch viel mehr.
Simon flüstert fast: Wie wenn Friede und Freude weit weg auf den Hügeln wären, aber wir müssen selber den Weg dazu finden.
Und, Riccardo, kannst Du jetzt diesen Satz lesen?
Ja, aber ich möchte, dass wir ihn alle zusammen lesen. Und so tönt es denn vielstimmig durchs Klassenzimmer: