Mein Wunsch sei auch euer Wunsch

Was meint ihr, was machen wir heute Nachmittag in der Deutschstunde, in der letzten Schulstunde vor dem Wochenende, zwei Wochen vor Weihnachten?

Zwar hören alle die Frage von Kevin, aber niemand mag Antwort geben. Auf einmal wirken die Treppen-stufen höher und zahlreicher – ein weiter Weg bis zum vierten Stock im Hohenbühl-Schulhaus.

Eine halbe Stunde später. Die Deutschlehrerin Frau Weiras hat die Klasse dazu angehalten, das letzte Kapitel aus einem aktuellen Roman nochmals durchzugehen, und dabei auf Wörter zu achten, die nicht zur Alltagssprache gehören. Es kommt eine ansehnliche Liste zusammen. Bei einzelnen Wörtern ergeben sich ausgedehnte Diskussionen, wenn nach der Wortbedeutung und nach möglichen Synonymen gesucht wird.

Genug für heute. Und weil in zwei Wochen bereits Weihnachten ist, wollen wir diese Stunde abschliessen mit einer Runde, in der ihr alle euren liebsten Weihnachtswunsch äussert.

Frau Weiras, werden Sie ebenfalls von Ihrem Wunsch erzählen?, fragt Kevin.

Selbstverständlich, aber erst am Schluss. Und jetzt bitte ich Istvan, seinen grössten Weihnachtswunsch vorzutragen.

Ich möchte, dass alle das wollen, was ich will.

Stille im Klassenzimmer.

Istvan, haben wir richtig verstanden? Du möchtest, dass alle wollen, was du möchtest?

Ja.

Ich habe gehört, du seiest der beliebteste Peace-Maker auf dem Pausenplatz, weil du für alle Verständnis hast, weil du für alle Probleme eine gerechte Lösung suchst. Ausgerechnet du möchtest nun, dass alle das wollen, was du willst?

Er will sicher viel Geld. Oder eine kluge Freundin. Das neueste Handy. Das schnellste Snowboard.

So tönt es, manchmal flüsternd, manchmal lauter, aus der Klasse.

Frau Weiras, es ist so, aber es ist doch nicht so, wie ihr alle meint. Wenn ich dies aber erklären soll und nachher alle so lange brauchen, um ihren Wunsch zu erklären, dann werden wir heute nicht mehr fertig.

Istvan, ich habe einen Vorschlag. Ich meine, dass einiges hinter Deinem Wunsch steckt. Ich schlage vor, dass wir nächsten Freitag nochmals über Wünsche sprechen, Ihr alle bringt ein Bild Eures Wunsches mit, ich auch. Istvan, du schreibt einen Aufsatz und wirst uns diesen nächsten Freitag vorlesen. Seid Ihr alle einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann wünsche ich Euch ein schönes Wochenende.

* *** ***** *** *

Einige haben versucht, von Istvan mehr über seinen Wunsch herauszubekommen. Sogar die besten Freunde hat er auf Freitag vertröstet.

Als Frau Weiras kurz nach dem Läuten der Glocke eintritt, sitzen alle bereits auf ihren Plätzen.

Also, Istvan, wir sind alle sehr gespannt, was du uns vorzulesen hast.

Warum ich mir wünsche, dass alle wollen, was ich will, beginnt Istvan.

Vor bald zwei Wochen ist in Paris die Weltklima-Konferenz zu Ende gegangen. Meine Mutter arbeitet als Wissenschafterin in diesem Bereich. Somit war diese Konferenz seit Wochen ein Thema bei uns zu Hause. Ich habe sehr viel im Internet gelesen, meine Mutter hat mir einiges erklärt.

An der Konferenz wollten alle Staaten eine gemeinsame Lösung finden, um den von den Menschen gemachten Klimawandel zu beschränken. Es geht zum Beispiel um Tuvalu, eine Inselgruppe im pazifischen Ozean, fast dreitausend Kilometer nördlich von Neuseeland. Auf Tuvalu wohnen etwa zehntausend Menschen. Weil der höchste Punkt von Tuvalu nur fünf Meter über dem Meeresspiegel liegt, könnte der Klimawandel dazu führen, dass Tuvalu nicht mehr bewohnbar wäre.

Ich habe im Fernsehen einen Beitrag über Tuvalu gesehen. Es gibt eine einfache Möglichkeit, um mit dieser zukünftigen Veränderung umzugehen. Für die zehntausend Menschen von Tuvalu könnte sicher irgendwo auf der Erde ein lebenswerter Ort gefunden werden, wohin alle aus Tuvalu umziehen würden.

Die Menschen, die heute in Tuvalu wohnen, wollen dies nicht, sie wollen in Tuvalu bleiben. Eine jüngere Frau aus Tuvalu wurde interviewt, mitten in einer Gruppe von Menschen aus Tuvalu, sie ist Englischlehrerin an einer Schule im Hauptort Funafuti, ich konnte ihren Namen nicht herausfinden.

Sie hat gesagt, wenn die Menschen so rasch als möglich auf Kohle, Öl und Erdgas verzichten würden, könnten die Menschen in Tuvalu weiter dort leben. Das wäre doch eine schöne Aufgabe für die Menschen überall in der Welt.

Als die Fernsehreporterin fragte, warum denn sie in Tuvalu bleiben möchte, sprudelte es aus der Englischlehrerin heraus. Tuvalu, da sind alle Plätze meiner ersten Liebe, da sind so viele Erinnerungen, da will ich bleiben. Die Fernsehreporterin stellte fest, dass sie sicher neue solche Orte finden werde irgendwo in der Welt. Meine erste Liebe ist immer noch meine Liebe, meinte die Englischlehrerin, mit einem strahlenden Lachen im Gesicht. Alle Menschen um sie herum nickten, begannen ebenfalls zu lachen.

Dieses Lachen hat mich an das Lachen meiner dreijährigen Cousine erinnert, wenn sie zufrieden und glücklich ist, weil ich mit ihr spiele. Ich wünsche mir, dass die Menschen auf Tuvalu ihr Lachen behalten können.

Ganz ruhig ist es im Klassenzimmer, gespannt hören alle dem Bericht von Istvan zu, die einen nachdenklich, andere mit einem Lachen im Gesicht.

Was braucht es, damit die Menschen auf Tuvalu bleiben können? Im Interview wurde es gesagt, weg von Kohle, weg von Öl, weg von Erdgas. Aus diesem Interview hat sich für mich eine Aufgabe ergeben. Ich wollte wissen, ob dies überhaupt möglich ist. An vielen Orten wird mit Öl und Gas geheizt, nicht nur in Deutschland wird Kohle gebraucht, um Strom zu produzieren, die meisten Autos werden von Benzin- oder Dieselmotoren angetrieben. Ich habe im Internet viele Berichte gefunden, in denen steht, dass ein Verzicht auf Kohle, Öl und Erdgas bis zum Jahr 2050 möglich ist. Immer steht dabei die Anmerkungen «wenn wir dies wirklich wollen». Das ist es, was ich will. Das ist es, was ich will, dass dies alle wollen.

Etwas ist mir noch aufgefallen bei meiner Suche im Internet. Ich habe viele Bilder von Menschen gesehen, die an diesen Berichten gearbeitet haben. Und viele dieser Menschen haben sich in diesen Bildern mit lachenden Gesichtern gezeigt, so wie meine kleine Cousine, so wie die Englischlehrerin von Tuvalu.

Ich habe immer wieder meine Mutter gefragt, was sie zu diesen Berichten sagt. Mit einem Lachen hat auch sie bestätigt, dass eine Welt ohne Kohle, Öl und Erdgas möglich ist, wenn wir, wenn die Menschen dies wollen.

Die Menschen, die all diese Berichte geschrieben haben, sind überzeugt davon, dass eine solche Welt eine bessere Welt wäre. Lebenswerte Städte und Dörfer mit sauberer Luft und weniger Lärm, viele Jobmöglichkeiten, mehr Schutz für natürliche Lebensräume, gesündere und zufriedenere Kinder, so könnte diese Welt aussehen. Aus den meisten dieser Berichte geht hervor, dass es auch eine Welt ohne Atomkraftwerke wäre.

All dies ist doch eigentlich das, was wir alle möchten – darum ist es mein Wunsch, dass alle wollen, was ich will.

Ich will etwas tun dafür. Ich habe mir auch bereits ein Zeichen dafür ausgedacht.

Istvan steht auf, geht zur Tafel, nimmt eine Kreide zur Hand und schreibt drei Wörter – «Je suis Tuvaluan» – und bleibt daneben stehen.

Es ist ganz still im Klassenzimmer. Bente, sie sitzt ganz hinten im Zimmer, steht auf, geht nach vorne zur Tafel, malt einen Smiley neben die Wörter von Istvan, und bleibt ebenfalls stehen.

Nach und nach kommen alle Schülerinnen und Schüler der Klasse nach vorn, einige schreiben ihren Namen auf die Tafel, es gibt weitere Smileys, wieder andere halten ein JA! oder ein OK fest. Auch Frau Weiras reiht sich ein.

Frau Weiras ist die erste, die wieder Worte findet.

Istvan, ich bin beeindruckt von deinem Wunsch, und ich verstehe ihn jetzt. Ich habe mein Einverständnis auf der Wandtafel festgehalten, wie ihr alle auch. Wenn viele Menschen von diesem Wunsch erfahren, wenn sie zu wissen bekommen, was sie zu wollen haben, dann bin ich zuversichtlich, dass wir es schaffen.

Frohe Weihnachten wünsche ich euch allen und ein gutes Neues Jahr – ein Jahr, um diesem Wunsch näherzukommen.

Alle klatschen, schütteln sich zum Abschied die Hände oder umarmen sich kurz.

Als letzter verlässt Kevin den Raum. «Bitte nicht reinigen!» hat er kurz vorher in die rechte obere Ecke der Tafel geschrieben.

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