Eines Abends

Seit bald hundert Jahren wurde am letzten Adventssonntag im Musiksaal des Gymnasiums über dem Stadtquartier Vordemberg mit viel Erfolg die Weihnachtsgeschichte gegeben.

Der Vorhang schloss sich hinter der zweiten Szene des traditionellen Krippenspiels. Der Gastwirt wollte Maria und Joseph und Maria keine Übernachtungsmöglichkeit bieten, und wie immer nahmen ihm die Zuschauerinnen und Zuschauer seine Argumente nicht ab.

Jetzt stellten sich links und rechts der Bühne die dunkel gekleideten Sängerinnen und Sänger der vereinigten kirchlichen und weltlichen Chöre aus dem Stadtteil auf. Am Schluss der nächsten Szene mit den Hirten auf dem Feld würde dieser Chor zusammen mit den himmlischen Engelscharen über Friede und Freude singen.

Von hinten waren aus dem Küchenanbau geschäftiges Klimpern mit Tellern und Besteck zu hören, die letzten Vorbereitungsarbeiten für die Weihnachtssuppe, die nach dem Schlussapplaus ausgegeben wurde.

Hinter dem Vorhang wurde es plötzlich sehr laut, das Gemurmel im Saal verstummte. Da wurde offenbar heftig gestritten auf und hinter der Bühne. Während der Streit auf der andern Seite des Vorgangs andauerte, setzten auch im Saal die leisen Gespräche wieder ein. Sie wurden, je länger die unerwartete Pause dauerte, lauter und lauter.

Ein einzelner Scheinwerfer leuchtete auf, zeichnete einen hellen Kreis auf den Vorhang. Jemand trat durch den Spalt im Vorhang in den Lichtschein.

Hochverehrtes Publikum.

Der Lärm im Saal ebbte ab.

Hochverehrtes Publikum. Ich bin die Regisseurin dieses Krippenspiels. Es haben sich unerwartete Schwierigkeiten ergeben. Wir haben aktuell die Situation, dass wir zwei Hauptengel hinter der Bühne haben. Der eine behauptet, der richtige zu sein, der andere gibt vor, der echte zu sein. Beide zusammen, das geht nicht, weil jeder einen anderen Text vor sich hat. Der echte Hauptengel will zudem, dass das Krippenspiel draussen im Bergpark weiter geht. Sie müssen nun entscheiden, wie es weitergehen soll. Ich warte hier, bis der Saal seine Meinung gebildet hat. Übrigens: draussen schneit es derzeit ganz leicht.

Unterdessen war es etwas heller geworden im Saal. Blinzelnd sahen sich die Zuschauerinnen und Zuschauer im Saal um. Sie wirkten überrascht. Statt einfach nur sitzen und geniessen zu können, mussten sie sich über den weiteren Verlauf verständigen, im Wissen darum, dass der eine mögliche Fortsetzungspfad nach draussen in Kälte, Nässe und Dunkelheit führen würde.

Das waren Witzbolde, diese zwei Hauptengel, der eine der richtige, der andere der echte.

Immer mehr Menschen im Saal standen auf, formierten sich zu Grüppchen und Gruppen. Immer intensiver wurde diskutiert. Am lautesten waren jene Stimmen, die für eine Fortsetzung im Saal plädierten.

Da wissen wir, was auf uns zukommt, wir kennen den Text auswendig, weil viele von uns schon einmal mitgespielt haben. Und hier drin ist es sicher gemütlicher als draussen im Schneetreiben.

Weil wir das, was hier im Saal ablaufen würde, bereits kennen, können wir uns für ein Mal auch auf etwas anderes einlassen, auf eine uns nicht bekannte Weiterentwicklung. Und auch die Hirten auf dem Felde waren damals draussen, dem Wetter ausgesetzt, das können wir sicher für eine kurze Weile auf uns nehmen.

Dieser andere Engel, auch wenn es der echte ist, wird uns sicher ins Gewissen reden, dass wir uns ändern müssten. So kurz vor Weihnachten passt mir das gar nicht.

Hätte denn der echte Engel gute Gründe, Dir ins Gewissen zu reden? Dann wäre es aber umso dringender, dass wir nach draussen gehen.

Die zu Beginn lauten Stimmen wurden immer leiser und weniger. Und schon begannen die ersten, den Saal zu verlassen.

Hochverehrtes Publikum. Die Meinungen sind gemacht. Draussen stehen Hirten, die den Weg zum Bergpark kennen.

Damit schloss sich auch die Regisseurin jenen an, die aus dem Saal strömten. Der Scheinwerfer erlosch.

Auf der grossen Wiese im Bergpark weideten seit einigen Tagen eine Herde Schafe und zwei Esel, umkreist von aufmerksamen Hunden. Unter den Bäumen am Rand der Wiese stand der Wagen, in dem die Hirten-Familie wohnte. In der Nähe glomm ein Holzfeuer.

Durch die Hirten geleitet, versammelten sich die Zuschauerinnen und Zuschauer des Krippenspiels in der Nähe der Schafweide. Ganz ruhig war es, hie und da ein geflüstertes Wort, dann und wann ein helles Klingen der Glöcklein, die einige Schafe um den Hals trugen.

Da trat der echte Engel zu ihnen, helles, blendendes Licht erstrahlte, die Menschen erschraken, sie wirkten überrascht.

Fürchtet Euch nicht! Dies sagte ich auch schon vor mehr als zweitausendundein Jahren, in einer dunklen Nacht, einer Nacht wie dieser, auf den Feldern vor den Toren Bethlehems. Ich wünschte allen Menschen guten Willens Friede und Freude, ich verkündete, dass der König des Friedens und der Freude in die Welt gekommen sei.

Ich frage Euch, fragt Euch selbst: Sind denn Friede und Freude in der Welt? Was ist da schief gelaufen? Viele von Euch schütteln den Kopf, ich sehe fragende Gesichter.

Der König des Friedens und der Freude ist in die Welt gekommen, seither hat es viele Botschafterinnen und Botschafter des Friedens und der Freude gegeben, echte, richtige, manchmal auch falsche und eigennützige. Bedenkt dabei, Friede und Freude passieren nicht einfach, Frieden und Freude werden nicht durch den König, werden nicht durch Botschafterinnen und Botschafter gemacht. Damit Frieden und Freude gelingen, braucht es den Beitrag jedes Menschen, je nach den Möglichkeiten, mal kleiner, mal grösser. Zuviel ist dabei nicht möglich! Es braucht, und dies hiess es schon damals in meiner Botschaft, die Mitwirkung der Menschen guten Willens, jeden Tag, bei all dem, was diese Menschen denken und tun. Manchmal braucht es dazu auch das Undenkbare, das Unmögliche. Friede und Freude allen Menschen guten Willens.

Während der Ansprache des echten Hauptengels wurde das Licht noch blendender. Die Luft war von zuerst leisen, dann immer lauter werdenden Gesängen erfüllt, die vom Frieden und der Freude Kunde gaben. Nach einer Weile entfernte sich der Hauptengel aus dem Kreis, verschwand aus dem Gesichtsfeld, das Licht erlosch, die Gesänge klangen aus. Ganz ruhig wurde es, hie und da ein geflüstertes Wort, dann und wann ein helles Klingen der Glöcklein, die einige Schafe um den Hals trugen.

Die Menschen zogen ohne Eile zurück in den Musiksaal. Das Krippenspiel nahm den üblichen Lauf. Nach der Weihnachtssuppe sassen die Menschen noch lange zusammen, die einen ruhig und nachdenklich, andere im Zweifel darüber, was sie von der Botschaft des echten Hauptengels halten sollten, wieder andere vertieft darin, wie sie diese Botschaft in die Welt tragen konnten. Kurz nach Mitternacht erlosch das letzte Licht im Musiksaal oben in Vordemberg.

Am nächsten Tag berichteten die Medien über das Krippenspiel. In den Kommentaren wurde auch darüber spekuliert, ob allenfalls auch der echte Hauptengel bloss eine Inszenierung war. Vor Jahren bereits hatte nämlich die Regisseurin in einem Interview berichtet, dass ihr angesichts der alltäglichen Realität die schönen Worte von Frieden und Freude im Hals stecken blieben. Die Berichte und Kommentare stimmten alle überein, dass unabhängig vom Hintergrund die Botschaft des Hauptengels richtig und echt war: Friede und Freude braucht die tätige Mitwirkung aller!

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