Der Spaziergänger

Staunend stand Herr K. am Ufer des Sees. „Das Betreten der Eisfläche ist gestattet! Die Stadtpolizei“ stand auf einer grossen Anzeigetafel, die auf dem See stand. Schon seit Tagen war der See gefroren, aber noch gestern hatten rot-weisse Absperrbänder den Zugang zur Eis gewordenen Seeoberfläche verhindert.

Zögernd trat Herr K. auf das Eis hinaus. Tatsächlich, er versank nicht im See, richtig gutes tragfähiges Eis, ohne Spalten, ohne Löcher. Herr K. schritt kräftiger aus, richtete den Blick auf den in der Morgendämmerung schwach sichtbaren Kirchturm am andern Seeufer. Etwa eine Stunde hin, eine Stunde zurück, vielleicht noch einen Kaffee in der Strandbar, so stellte sich Herr K. den heutigen Spaziergang vor.

Seit dreiundzwanzig Jahren und einigen Wochen pflegte Herr K. fast täglich einen Spaziergang im Städtchen, meistens Richtung die schmale und weit in den See hinausragende Landzunge, die einen weiten Blick über den See und das gegenüberliegende Ufer bot. Seit dem Morgen nach dem Tag, an dem seine Partnerin und er in dieses Städtchen gezogen waren, spazierte er nun schon – zuerst, um das Städtchen kennen zu lernen, dann aus Gewohnheit. Und diese Gewohnheit hielt er bei, einerseits, weil dieser Spaziergang immerhin die Hälfte der täglich empfohlenen Schrittzahl – dem Herz und der Gesundheit zuliebe – einbrachte, andererseits, und dies eigentlich zuerst, weil dieser Spaziergang die Inspirationsquelle für seine tägliche Arbeit war.

Herr K. betätigte sich als Autor – als „Langgeschichten-Erzähler“, wie auf seiner Visitenkarte stand. Seine Partnerin, er hatte sie im Verlag kennengelernt, welcher seine Bücher verlegte, damals war sie als Lektorin seines Buches tätig, war inzwischen zur Erstleserin und zum wichtigsten Echoraum beim Entstehen seiner Bücher geworden. Lektorin war sie immer noch, ihr Tätigkeitsgebiet waren vor allem Schulbücher zu fast allen Unterrichtsthemen. Diese Tätigkeiten ermöglichten eine geruhsame Lebensweise, unter anderem mit den langen Spaziergängen. Manchmal begleitete sie ihn, vor allem dann, was leider selten genug vorkam, wenn sie Einfluss auf den Gang einer Geschichte nehmen wollte.

Unterdessen lag das Ufer bereits weit zurück, der Blick zurück zeigte vor allem die idyllischen Seiten des Städtchens. Leicht am Hang lag das Mehrfamilienhaus mit seiner Wohnung im zweitobersten Stock. Haus und Umgebung wirkten noch ruhend.

Nahe am Ufer standen die Stützmauern eines alten Bahntrassees – die Bahnlinie verlief längst begradigt im Untergrund. Die Mauern waren zur langgezogenen Leinwand von Paintbrushern geworden. Hin und wieder sah er, wie ein solches Bild entstand, Männer und Frauen, manchmal auch Jugendliche, die mit Spraydosen herumwerkelten, ihm nervöse Blicke zuwarfen, die wieder auf die Wand zurückkehrten, wenn sie den Spaziergänger als harmlos eingeschätzt hatten. Er hatte in all den Jahren eine interessante, sich auch wiederholende Wandlung der Spray-Stile mitverfolgt, manchmal figürlich, dann wieder ornamental, hin und wieder riesige Tags, die grafisch gestalteten Künstlernamen der SprayerInnen. Herr K. hatte keine Meinung, ob diese Sprayereien eine gute Sache seien, noch hatte er besondere Vorlieben für einzelne der Stils. Er stellte fest, dass nicht nur die Stile änderten, sondern auch die Farbigkeit der Werke, manchmal waren die Bilder düster und bedrohlich, dann wieder knallig bunt und heiter.

Langsam stieg gegen Osten hin die grosse helle Sonnenscheibe immer höher, das Licht spiegelte sich auf dem Eis, schien abzukühlen dabei, auch wenn er nur blinzelnd in diese Richtung sehen konnte. Herr K. beschleunigte seine Schritte. Auch wenn er sich an das Spazieren an der kalten Luft gewöhnt war, spürte er hier draussen auf dem gefrorenen See die kühlende Wirkung des Windes.

Bei seinen Wanderungen entstanden die Ideen, die er dann im Verlauf der Tagesarbeit zu Geschichten formte. Manchmal kam es ihm vor, als lägen die Ideen einfach in der Gegend herum, und er müsse sie nur einsammeln und gut bewahren, um daraus eine Geschichte zu machen. Hier draussen auf dem See, in der immer grösser werdenden Weite, liessen sich keine neuen Gedanken sammeln, es war, wie wenn die Einfälle an „seinem“ Ufer auf ihn als Finder warten würden.

Hier in der Mitte des Sees war er ganz allein. Beim Blick zurück meinte er, Kinder, ganze Schulklassen zu sehen, die das seltene Ereignis des gefrorenen Sees genau so nutzten wie er.

Kurz darauf glitt ihm eine Gruppe von Schlittschuhläuferinnen und -läufern jauchzend und schreiend entgegen und verschwand schnell in seinem Rücken, während er immer wieder von Schlittschuhlaufenden überholt wurde. Nochmals beschleunigte Herr K. seine Schritte, und er näherte sich immer deutlicher dem Ufer. Beim Blick auf die Uhr am nähergerückten Kirchturm stellte er fest, dass er deutlich schneller vorangekommen war als erwartet.

Nach der willkommenen Pause im herrlich nach frischem Brot duftenden Strandcafé nahm Herr K. den ihm bestens bekannten Kirchturm seines Wohnortes in den Blick und schritt kräftig auf der riesigen Eisfläche aus. Es schien ihm, als hätten es all die Menschen, die am See lebten, ihm gleichgetan. Er erinnerte sich an den gestrigen Wetterbericht. Demnach würde schon bald Tauwetter herrschen. Ja, wer sich nicht heute oder morgen auf das Eis wagte, würde diesen Spass verpassen! Nun schien es ihm erst recht, als hätten die vielen Menschen auf dem Eis alle guten Anregungen vertrieben. Zurück am Ufer, ging es so weiter. Auch an den guten Ideenaufleseplätzen herrschte gähnende Leere, langweilige Stille.

S. sass in ihrem Lesesessel neben dem kleinen Tischchen mit dem Kaffeekrug, und las in den Seiten, die er ihr gestern zur Lektüre hingelegt hatte. „Du bist spät dran heute. Und das, was ich heute morgen gelesen habe, gefällt mir.“ Herr K. schenkte sich einen Kaffee ein und liess sich aufseufzend im Sofa ihr gegenüber nieder. Und er berichtete vom gefrorenen See, von der Wanderung über den See ans gegenüberliegende Ufer, er erzählte von den Stimmungen, dem Licht, der Leere, und später dem quirligen Leben auf der Eisfläche. Herr K. beklagte sich über die nicht gefundenen Ideen. Verwundet stellt er fest, dass seine Partnerin ob seiner Klage amüsiert den Kopf schüttelte. „Mein Lieber, Du irrst Dich – Deine Erzählung über den Spaziergang und das Rundherum war beste Unterhaltung, das war schon fast Klassik und Romantik gleichzeitig. Heute abend ist Vollmond. Der Wetterbericht sagt klaren Himmel voraus. Lass uns heute abend zusammen über den See spazieren.“

Während des Mondlicht-Spaziergangs über den gefrorenen See zeigten sich die Ideen wie gewohnt.


Die Geschichte vom Spaziergänger ist im übrigen eine 1000-Wörter-Geschichte – eine Geschichte also, die weniger sagen soll als ein einziges Bild. Weniger als zum Beispiel dieses Bild?

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