Das Plakat

Der Kinderchor probt für die Weihnachtsaufführung. Hauptprobe – prächtig sieht der Chor aus in seinen Engel-Kostümen.

„Friede und Freude den Menschen auf Erde“ tönt es gerade strahlend durch den Saal. Die Dirigentin bricht ab. Nicht nur sie hat es gehört: da war nicht nur Jubelklang, da war auch ein Weinen. Dieses Weinen lässt sich nicht einfach abwinken, es verstärkt sich sogar, auch andere Kinder folgen. Schmerz, Elend, Trauer liegen in der Luft. Von allen Seiten eilen weitere Kinder, ebenfalls kostümiert, auf die Bühne, es folgen die erwachsenen Helferinnen und Helfer. Die Kinder halten sich in den Armen, versuchen sich gegenseitig zu trösten. Roswitha, erst seit kurzer Zeit im Chor, war der Ausgangspunkt des Weinens. Sie beruhigt sich langsam.

Roswitha beginnt stockend ihr Weinen zu erklären. Immer wieder muss sie ihren Bericht unterbrechen.

Als ich zum ersten Mal „Friede und Freude“ hätte singen müssen, habe ich nur noch die Bilder aus dem Fernsehen und den Zeitungen gesehen mit den vielen toten Menschen, mit den toten Kindern.

Einige, die um Roswitha herumstehen, nicken langsam. Einige wischen Tränen aus den Augen, immer wieder sind Schluchzer zu hören.

Bei der zweiten Strophe konnte ich nicht mehr, ich musste weinen. Und wenn ich dies nochmals singen muss, werde ich wieder weinen müssen.

Roswitha hält sich die Hände vor das Gesicht, wieder weint sie. Viele der Kindern im Saal nicken, murmeln Zustimmung. Liza, die Dirigentin, rauft sich die Haare, auch ihr stehen Tränen in den Augen. Einverstanden, so können wir alle übermorgen Abend nicht mit überzeugung vom Frieden und der Freude für die Menschen singen. Kommt, wir machen eine kurze Pause, und in zehn Minuten kommen wir wieder zusammen und überlegen, was wir tun müssen, um unser Lied doch singen zu können.

* * *

Ein voller Saal, eine gute Stimmung: das Weihnachtsmusical der städtischen Musikschule gefällt. Sogar Micha, der den Wirt spielt, hat diesmal seinen Auftritt ohne Versprecher hinter sich gebracht. Alle im Saal kennen die Geschichte, sie wissen, dass demnächst gleissendes Licht die Bühne erhellen wird, dass der Engelchor den überraschten Hirten die gute Botschaft überbringen wird.

Doch stattdessen wird es dunkel im Saal, ein einzelner Lichtstrahl ist auf ein Lesepult gerichtet. Ein Mädchen tritt auf die Bühne, zusammen mit der Dirigentin, geht zum Lesepult, atmet zwei Mal gut durch, und beginnt zu sprechen.

Bevor wir zu einem Höhepunkt des Musicals kommen, müssen wir miteinander etwas klären. „Friede und Freude den Menschen auf Erde“ werden wir nachher singen. Und wir alle wissen: Friede ist nicht auf dieser Erde, Freude gibt es nicht für alle Menschen. Ich selber konnte bei der Hauptprobe dieses Lied nicht singen, wegen all der Bilder, die Menschen zeigen, die leiden müssen. Und auch vielen anderen im Chor ist es nicht wohl bei diesen Worten.

Es ist noch ruhiger geworden im Saal. Hier wird angesprochen, was viele denken, aber nicht zu sagen wagen, um anderen die Festvorfreude nicht zu verderben.

Immer mehr Kinder sind unterdessen auf die Bühne gekommen, stellen sich neben Roswitha, neben ihre Dirigentin.

Wir haben nach der Hauptprobe lange diskutiert. Wenn wir dieses Lied nun singen werden, singen wir es, obwohl wir wissen, dass Friede und Freude noch nicht bei allen Menschen angekommen sind. Wir singen dieses Lied, weil wir alle wollen, dass unser Wunsch, unsere Bitte, unsere Hoffnung Realität wird. Wir haben ein grosses Plakat vorbereitet mit unseren Wünschen, Bitten, Hoffnungen für Friede und Freude. Sie dürfen nach dem Musical gerne weitere Einträge schreiben, Sie dürfen auch sehr gerne unser Plakat unterschreiben. Das Plakat wird nachher kopiert und an viele Regierungen geschickt. Jetzt können wir unser Lied singen.

Ganz langsam verlassen die Kinder die Bühne, im Saal ist es ruhig. Die Worte von Roswitha haben Eindruck gemacht.

Als der Engelchor im gleissenden Licht erscheint, als das Lied erklingt, haben viele den Eindruck, dies sei die eindrücklichste Fassung eines Weihnachtsliedes, die sie je gehört und gesehen hätten. Auch Roswitha, mitten im Chor, hat mit ihrer kräftigen Stimme vom Frieden und der Freude gesungen.

Nach dem Schluss des Musicals wird das Plakat mit Wünschen, Bitten und Hoffnungen sehr voll, es sind sehr viele Unterschriften zu sehen.

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