Inia zündet eine Kerze an. Sie nimmt eine kleinere Kerze, zündet diese an der ersten Kerze an, und geht damit zum Weihnachtsbaum. Sie nähert sich dem Docht der ersten Kerze am Christbaum – und zögert einen Moment.
Kalussa, das ist kein echter Baum, das ist ein künstliches Gebilde!
Die ganze Tischrunde springt auf und eilt Richtung Baum. Alle berühren mit ihren Fingern das Gebilde.
Ja, das ist so. Dabei duftet es so fein nach einem Baum aus dem Wald.
Inia, liebe alle, die ihr bei meinem Baum steht. Ja, es ist wahr, dies ist ein künstliches Gebilde. Lasst es mich erklären. Lasst uns nochmals zum Tisch gehen, meine Geschichte wird ziemlich lang.
Wer genau hinschaut, sieht Tränen in den Augen von Kalussa.
Ihr wisst, letztes Jahr hatte ich kurz vor unserem Weihnachtstreffen einen schweren Unfall. Ich lag während drei Wochen im Spital. Lange Zeit war ich sediert und konnte mit niemandem sprechen. Ihr habt spontan Weihnachten bei Inia zuhause gefeiert.
Alle nicken.
Vor meinem Unfall hatte ich schon den Christbaum aufgestellt und geschmückt. Zum Unfall kam es, als ich die Zutaten für meinen Beitrag zum geteilten Buffet einkaufen wollte.
Stimmt, dein grandioser Reis-Linsen-Kichererbsen-Salat hat uns gefehlt letztes Jahr.
Und du natürlich auch!
Als ich nach meiner Genesung wieder in die Wohnung zurückkam, habe ich zuerst den völlig vertrockneten Christbaum, noch immer geschmückt, gesehen. Da kam der Schmerz des Unfalls fast wieder zurück, verstärkt durch die späte Entsorgung dieses Baumes.
Ich habe mir vorgenommen, dieses Jahr den Baum gerade vor unserem Fest zu kaufen. Als ich auf dem Biohof ankam, wo ich meinen Baum jeweils kaufe, stand beim Zugangsweg eine Tafel mit der Aufschrift «Weihnachtsbäume ausverkauft». Da kamen schon wieder Tränen auf.
Zu Hause wollte ich im Internet nachschauen, wo in der Nähe noch Tannenbäume zu kaufen wären. Auf dem Nachhauseweg stand am Wegrand dieses künstliche Gebilde, mit einem Zettel «Gratis zum Mitnehmen! Frohe Weihnachten!» Ein Beutel hing am Baum, darin lag ein Fläschchen mit der Aufschrift «Weihnachtsbaum-Duft». Ich habe zugegriffen, und jetzt steht das Gebilde da.
Kommt, lasst uns die Kerzen anzünden, damit wir wieder feiern können.
Inia zündet zwei Kerzen am Baum an und gibt die Anzündkerze in der Runde weiter. Hell leuchten die Kerzen am Baum. Das Weihnachtsfest geht weiter. Alle geniessen es.
Viele Geschenke werden ausgepackt. Es wird herzlich gelacht, mit Freude in den Gesichtern. Mit Genuss werden Weihnachtslieder gesungen. Mirio meint, wir alle zusammen könnten eigentlich einmal als Chor auftreten.
Das Dessertbuffet zum Schluss ist nochmals ein Geschenk für alle. Danach gehen die meisten nach Hause.
Kalussa und Inia sitzen zusammen in der gemütlichen Ecke. Auf dem Tisch stehen kleine Portionen Dessert und Tassen mit Nachttee, gefüllt aus dem Krug, der seit hundert Jahren an den Familien-Weihnachten gebraucht wird.
Kalussa und Inia sprechen lange miteinander. Nochmals füllt sich Inia die Teetasse.
Wirst du auch nächstes Jahr wieder dieses künstliche Weihnachtsbaum-Gebilde verwenden, Kalussa?
Das habe ich mir tatsächlich überlegt. Nach meiner Erklärung und dem Anzünden der Kerzen war für uns nur noch wichtig, dass flackerndes Licht das Auspacken der Geschenke noch etwas festlicher gemacht hat. Und eben, schon lange habe ich mir Kerzen aus Rapswachs gekauft, nicht mehr solche aus aus Erdöl hergestelltem Paraffin. Einen Moment habe ich mir sogar überlegt, auch für einen natürlichen Christbaum flackernde LED-Lämpchen zu kaufen, die mit dem Ökostrom leuchten würden, den ich von unserem Elektrizitätswerk geliefert erhalte, und die ich immer wieder brauchen könnte.
Solche Fragen beschäftigen mich im Job und privat jeden Tag, Kalussa. Wir alle müssen, wenn wir unserer Welt eine Zukunft geben wollen, immer mehr Dinge aufgeben, die uns lieb geworden sind. Für die Weihnachtsbäume habe ich zwei KI-Tools verschiedene Fragen gestellt, einmal zu einem Baum direkt aus dem Wald neben unserem Wohnquartier, dann auch zu einem künstlichen Weihnachtsbaum-Gebilde. Die Antworten haben nicht weitergeholfen. Danach habe ich noch weitere Tools gefragt, welche Weihnachtsbaum-Variante die nachhaltigere sei. «Das kommt darauf an», war die übliche Antwort.
Ich kaufe gerne im Biohof, weil ich zuerst meinen Wunschbaum auswählen kann, und erst dann wird er abgeschnitten. Und er wird danach nicht in ein Plastiknetz eingesperrt. Und nach den Festtagen kann ich den Baum zurückbringen, er wird dann gehäckselt. Diese Variante würde sicher von der KI recht gut beurteilt. Es gibt viele Dinge in meinem Alltag, die ich bereits weggelassen habe. Und für Gewohnheiten, von denen ich mich nicht verabschieden möchte, habe ich andere Lösungen gesucht und vieles auch gefunden.
Ich mache dies sehr gerne. Der Christbaum mit seinen Kerzen bringt Licht in die Welt, und erinnert uns daran, dass wir in einer Welt leben, die wir für uns, für nächste Generationen, für uns alle erhalten und vielleicht sogar verbessern müssen. Aber mein Aufwand dafür war und ist gewaltig, und ich weiss noch nicht, wie es zu schaffen ist, dass wir alle dies wollen!
Inia nickt. Ja, das geht mir gleich. Und auch vielen Menschen in meinem Bekanntenkreis. Trotzdem sind viele hoffnungsvoll und zuversichtlich.
Da kommt noch etwas dazu, Inia. Und das spüren eben auch wir alle. Es geht um den Frieden! Auch wenn wir alle es wissen, dass unsere Zukunft nur friedlich funktioniert, machen sich gerade die am meisten Sorgen, die in allen Lebensfragen zuversichtlich und hoffnungsvoll sind.
Vielleicht gehört es zur Zuversicht und zur Hoffnung, Kalussa. Wenn wir alle diesen Frieden ganz fest wollen, wird er vielleicht möglich.
Kalussa steht auf und holt aus der Küche zwei Kratzwerkzeuge.
Inia, wir gehen jetzt zum Christbaum-Gebilde und kratzen mit diesen Werkzeugen Hoffnung, Frieden, Zuversicht, Lachen, Frieden und «wir alle» an möglichst vielen Stellen des Gebildes hinein. Und dann werde ich dieses Gebilde nächstes Jahr wieder für unsere Weihnachtsfeier aufstellen!
Beide stehen auf und kratzen an vielen Stellen die Worte hinein, hin und wieder auch ein anderes Wort.
Kurz vor Mitternacht schliessen sich Inia und Kalussa in die Arme. Ihre Gesichter zeigen ein kräftiges Lachen.