Wertvolle Nullen

«Einfach Null!» Dienstag kurz vor Mittag in der Landesstatistikabteilung. Saskia erklärt gerade ihrer Chefin Caroline die neuesten Zahlen der Energiestatistik. Zum ersten Mal in der Geschichte der Abteilung enthalten die Zeilen zu Heizöl, Erdgas, Kohle, Diesel und Benzin nur noch Nuller. Alle Energie, die im Land verbraucht wurde, stammte im letzten Jahr ausschliesslich aus erneuerbaren Quellen.

«Wir haben es geschafft, Saskia, das muss gefeiert werden», strahlt Caroline, und sie klatschen sich ab. «Wer hätte dies für möglich gehalten? Die paar Ökos, die dies vor 33 Jahren gefordert haben, wurden als Spinner bezeichnet. Dann gab es in Paris eine grosse Konferenz. Irgendwann wurde das Wetter plötzlich komisch. Und da hat die Politik den Ausstieg aus den fossilen Energien bis in 25 Jahren festgeschrieben. Ich war damals Studentin am Anfang des Masterstudiums, und die meisten hielten das für unmöglich. Super, dass wird dieses Ziel, leider drei Jahre zu spät, wirklich erreicht haben.»

«Als Statistikerinnen sind wir ja so etwas wie Geschichtsschreiberinnen, wir können in all unseren Statistiken zeigen, was sich in diesen Jahren verändert hat und was zu diesem Erfolg geführt hat. Ja, das müssen wir feiern, und wir, das sind wirklich wir alle, die Menschen, die in unserem Land leben, und da ist es besser, ein paar Erfolgsgeschichten zu erzählen, als nur die Zahlen zu publizieren», ergänzt Saskia.

«Weisst du was, Saskia? Heute Mittag haben wir unser gemeinsames Abteilungsessen. Wir laden unsere Kolleginnen und Kollegen ein, eine Episode aus ihrer eigenen Ausstiegs-Geschichte festzuhalten, und ihre Freundinnen und Freunde zu bitten, ebenfalls eine Episode beizusteuern. Wenn wir nächste Woche über unsere Statistik berichten, können wir die Zahlen mit Geschichten ergänzen, das kommt sicher gut an. Übernimmst du das Sammeln der Texte?»

 

Schon drei Tage später konnte Saskia in einem Info-Mail mitteilen, dass überwältigend viele Geschichten bei ihr eingetroffen seien. Diese gesammelten Geschichten würden sicher viel Echo auslösen.

 

Waldemar sitzt mit seiner Bürokollegin Heike in der Kaffeepause. Innerhalb weniger Sekunden hört er mehrfach den leisen Signalton seines Smartphones. Beim Blick auf den Bildschirm sieht er die Erfolgsmeldung aus dem Statistikbüro. In einer der Meldungen liest er seinen Vor- und Nachnamen. Das war auch der Name seines Grossvaters. Dieser ist am gleichen Tag gestorben, an dem Waldemar geboren wurde. Er kennt ihn nur von Fotos, und aus den Berichten in Zeitungen und im Internet über den Entscheid für den Ausstieg aus den fossilen Energien. Grossvater Waldemar war einer der Menschen, die sich für diesen mutigen Schritt eingesetzt hatten. Heike zeigt auf den Bildschirm ihres Smartphones. «Hey, Waldemar, schau mal, da gibt es ganz viele kleine Geschichten dazu, da hätte dein Grossvater sicher viel Freude daran, was da alles passiert ist». Waldemar nickt. «Das bringt mich auf eine Idee. Ich habe bald Geburtstag, es kommt also bald der Tag, an dem mein Grossvater gestorben ist. Ich werde ihm so etwas wie einen Dankesbrief schreiben mit diesen Geschichten.»

 

Lieber Grossvater Waldemar

Vor einigen Tagen wurde berichtet, dass unser Land keine fossilen Energien mehr verbraucht. Du hast dich vor deinem Tod für dieses Ziel eingesetzt. Ich habe einen Text gelesen, den du für eine Wochenzeitung geschrieben hast. Du hast erklärt, wie dieses grosse Ziel zu erreichen wäre. Was mich für immer an diesen Text erinnern wird, war dein Schlusssatz: Wenn wir es wirklich wollen, ist dieses Ziel erreichbar! Das hat sich schon an vielen Orten bestätigt, jetzt also auch bei einem deiner Erbstücke. Als kleine Erinnerung schreibe ich für dich Auszüge aus einem Tagebuch, wie wenn du diesen Ausstieg aktiv mitgemacht hättest. Ich habe nichts erfunden, dies ist alles zu finden als Begleittext zu den statistischen Mitteilungen über den erfolgreichen Ausstieg aus den fossilen Energien.

Dein Enkel Waldemar, nachfolgend zitierend aus deinem fiktiven Tagebuch:

 

Die ersten drei Monate seit dem Parlamentsbeschluss sind hinter uns. Ich war fast jeden Abend an einer Veranstaltung im Land, mal als Zuhörer, mal als Redner. Zu Beginn waren die Menschen jeweils ziemlich aufgebracht. Einverstanden, unsere Veranstaltungen waren inszeniert, wir haben eine geniale Umweltpsychologin engagieren können. Alles in allem wirkt dies sehr überzeugend. Wenn die Menschen nach Hause gehen, sind sie überzeugt davon, dass dies funktionieren wird, und sie sind mit dabei. Unterdessen wurden in zahlreichen Ländern genau die gleichen Beschlüsse gefasst, weitere werden folgen. Unsere kühnsten Träume wurden übertroffen. Vielleicht ist es ganz einfach, wir waren einfach zur richtigen Zeit an den richtigen Orten.

Alle in unserem Land haben offenbar die Fossilout-App installiert. Wenn man da ein paar Fragen beantwortet, wird auf dem Display angezeigt, wie lange es noch dauern würde, bis wir von den fossilen Energien weg wären. Wenn mal eine Party stattfindet, gibt es immer wieder Wettbewerbe mit Belohnungen für die erfolgreichsten Klimaschützerinnen und Klimaschützer. Die Schlusslichter erhalten Gutscheine für eine Beratung. Das hat uns alle angespornt. Übrigens: Auch wenn ich schon lange als Klimaschützer aktiv bin, habe ich bis jetzt noch nie einen solchen Wettbewerb gewonnen. Auch ich habe also noch etwas zu tun.

Heute Abend war ich wieder mal an der Einweihung eines Denkmals, diesmal für Steinkohle. In immer mehr Städten und Dörfern finden sich diese Denkmale. Die Idee ist ganz einfach. Auf Schrifttafeln ist festgehalten, wie wichtig während langen Jahren Erdöl, Erdgas oder Kohle für das Wohlergehen des Landes waren. Nun sei es aber an der Zeit, das Ende dieser Energien einzuläuten, weil es bessere Lösungen mit weniger Auswirkungen auf Mensch und Umwelt gebe. Heute ist am Umtrunk nach der Einweihung ein achtzigjähriger Mann zu mir gekommen. Er war sein ganzes Leben lang Inhaber einer Kohlehandelsfirma. Für ihn sei dieses Denkmal wichtig, hat er gesagt. Er wisse jetzt, dass seine Arbeit in diesem Unternehmen einen Wert habe. Er könne seine Arbeit ruhen lassen, ohne ein schlechtes Gefühl zu haben. Gleichzeitig könne er in Ehren Abschied nehmen von diesen so wichtigen Energien. Morgen werde er seinen Sohn davon überzeugen, die uralte Ölheizung des der Familie gehörenden Bürohauses endlich stillzulegen und eine Wärmepumpen-Anlage einzubauen. Zudem sei schon länger ein Umbau vorgesehen. Da müsse umgeplant werden, damit am Haus und auf dem Dach möglichst viel Sonnenenergie geerntet werden könne. Immer wieder höre ich solche Geschichten, und wünsche viel Erfolg bei der Umsetzung. Damit wir die Städte nicht mit diesen Denkmalen auffüllen, bleiben diese längstens fünfzehn Jahre stehen.

Heute wurde in der grössten Zeitung des Landes eine Architektin befragt. Sie sagt, seit drei Jahren sei es in ihrem Büro selbstverständlich, dass alle umgebauten oder neuen Häuser ausschliesslich mit erneuerbaren Energien funktionierten. Den grössten Erfolg habe ihr Büro mit Plusenergie-Häusern. Das sei für alle eine Herausforderung. Auch hier wieder: Wenn wir wollen, schaffen wir es. Die Architektin hat dem befragenden Journalisten ihre Message-Box gezeigt mit Erfolgsmeldungen begeisterter Hauseigentümerinnen und Hauseigentümer. Sie habe noch nie so viel Begeisterung mit so vielen Nullen erlebt.

Gestern hatte ich in der Bahn unterhaltsame Gespräche mit einem mir nicht bekannten Sitznachbarn. Er hat mich erkannt, und mir ein Kompliment ausgesprochen. Vor Jahren sei er an einer der vielen Veranstaltungen gewesen, um über diesen Unsinn auszurufen. Mein Vortrag sei unterhaltsam, ernsthaft und trotzdem lustig gewesen. Das habe ihn überzeugt. Jetzt komme er gerade zurück vom Besuch bei seinem Bruder. Das sei das vierte Plusenergie-Haus in der Familie. Beim Fest für das zweite Erfolgshaus habe damals die gesamte Familie entschieden, zukünftig auf ein eigenes Auto zu verzichten. Auch dies sei eine neue und total positive Erfahrung. Das heutige Festessen, alles vegetarisch, werde vielleicht auch zu einer neuen Familienpraxis.

Heute habe ich einen neuen Computer in Betrieb genommen. Ich konnte einmal mehr mein gutes altes Strommessgerät benutzen. Das neue Gerät arbeitet nochmals schneller als die Maschine, die ich vor acht Jahren gekauft habe, braucht aber zehn Mal weniger Strom und ist erst noch viel kleiner. Neu ist auch, dass es möglich sein sollte, defekte oder zu langsame Komponenten auszubauen und durch moderne Ausführungen zu ersetzen, ohne einen ganzen Computer kaufen zu müssen. Ich habe eine ganze Menge uralte Dokumente gefunden. Das gab einige ganz positive Momente. Da habe ich etwa ein Mail gelesen eines Politikers, der sich gegen den Ausstieg aus den fossilen Energien ausgesprochen hatte. Vielleicht darum, weil er beim öffentlichen Gasversorger angestellt war. Ich weiss gar nicht, ob der Herr erfreut wäre, wenn er von diesen alten Mails wüsste – heute ist auch er ein eifriger Verkäufer von erneuerbaren Energien.

Ich wohne seit zehn Jahren in der gleichen Wohnung in einem Zehnfamilienhaus. Vor etwa sechs Jahren wurde eine grosse Solaranlage installiert. Jetzt soll zusätzlich ein Stromspeicher eingebaut werden. Wie wurde doch noch vor fünfzehn Jahren über diese Speicher gestritten. Es ging um die Ökobilanz. Ich habe damals immer gesagt, wenn sich diese Technologie weiterentwickle, werde es möglich sein, Batterien mit einem immer kleineren ökologischen Fussabdruck herzustellen. Die mahnenden Stimmen sind verstummt, nicht zuletzt darum, weil aus Batterien wieder Batterien werden.

Früher erwachte ich häufig wegen Fluglärm, weil das Haus gerade in der Verlängerung der Hauptpiste des Flughafens liegt. Heute war ich schon früh unterwegs. Es gab einige fliegende Objekte am Himmel, aber kaum Lärm. Ich schreibe extra fliegende Objekte. Das sind keine Flugzeuge mehr mit lärmenden Düsentriebwerken. Jetzt sind die Menschen unterwegs mit Luftschiffen, betrieben mit elektrischen Motoren. Die Reise dauert zwar länger, ist aber deutlich gemütlicher, und die Menschen reisen anders. Rasch nach Nizza für eine Pizza, das geht nicht mehr. Ich selber bin früher nicht geflogen, wegen meines ökologischen Fussabdrucks, darum habe ich keine Vergleichsmöglichkeiten. Ich bin gerade auf einen Blog gestossen, in welchem einer meiner Freunde über die Flugerfahrungen berichtet. Die alte Form des Fliegens möchte er nicht zurück, und auch in den Kommentaren tönt es ähnlich.

An einer Nostalgieparty haben wir kürzlich wieder mal die Fossilout-App benutzt. Das Ding sieht wirklich altmodisch aus auf den aktuellen Geräten.

Ja, die Menschheit stösst weniger Treibhausgase aus, dies lässt sich nachweisen. Die Modellrechnungen stimmen immer besser mit der Realität überein. Das Klima hat sich trotz unseren Anstrengungen geändert, sogar kräftig geändert. Was wäre passiert mit der Welt, wenn wir seither nicht so erfolgreich gewesen wären? Viele Forschungsinstitute weltweit haben Berichte dazu geschrieben, wie unsere Welt aussehen würde mit viel mehr Treibhausgasen in der Atmosphäre. Ich habe es nicht einmal fünf Minuten ausgehalten, als kürzlich ein Film gezeigt wurde über eine Welt mit sehr starkem Klimawandel. Für mich ist dies der Beleg dafür, dass wir damals richtiggelegen haben. Und ich bin stolz darauf, dass wir es geschafft haben, aus unseren Zukunftssorgen positive Entwicklungen in Gang zu setzen, ganz im Interesse unserer Enkel und Enkelinnen, unserer Urenkelinnen und Urenkel.

Herzlichen Dank, Grossvater Waldemar, für deinen Einsatz für null Fossile.

Meine Auswahl der Tagebucheinträge ist sehr willkürlich und zufällig. Geschichten können nicht die ganze Realität abbilden – sie reichen aber aus, um zu bestätigen: Wenn wir es wirklich wollen, dann können wir es erreichen!


Dieser Text entstand inspiriert durch die Ausschreibung für den ersten Tor-Online-Kurzgeschichtenwettbewerb Climate Fiction.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert