Ein anstrengender Morgen

Pling. Pling. Nochmals. Pling. Pling. Das kam aus der Küche. Da war auch ein blinkendes Licht. Auf dem Bildschirm daneben steht: Lieferung soeben angekommen. Bitte im Lagergestell an Platz C3 einräumen. Der blinkende Pfeil zeigt nach rechts. Als Rina den Schrank öffnet, blinkt es oben in der Mitte, C3 steht da. Die Kunststoffkiste, die der automatische Hauslieferdienst abgeliefert hat, passt genau an diesen Platz.

Pling. Pling. Das kommt aus dem Wohnzimmer. Dort steht seit zwei Wochen das neueste Modell des 3D-Druckers, der wirklich alles drucken kann.

Spritzbehälter mit Schokolade bitter, rosa, aus biologischem Anbau, Fair-Trade, ist derzeit nicht im Haushaltvorrat. Lieferung erfolgt in etwa 35 Minuten. Bitte bestätigen, dass der nächste Druckauftrag erledigt werden soll.

Rina drückt auf den OK-Knopf. Fasziniert beobachtet sie, wie der Bedienroboter des 3D-Druckers einen grossen Spritzbehälter aus dem Lagerraum holt und in die Maschine einsetzt. Die Maschine setzt sich in Bewegung. Was da wohl gedruckt wird?

Pling. Pling. Diesmal kommt das Geräusch aus dem Gästezimmer, dort, wo Rina ihren Computer aufgestellt hat. Bitte Passwort eingeben, heisst es auf dem Bildschirm. Und unmittelbar darunter steht, dass der Computer aufgrund der grossen Menge Mails, die im Eingangspostfach warten, automatisch gestartet wurde.

Pling. Pling. Das kommt schon wieder aus der Küche. Einen kurzen Moment verweilt Rina beim 3D-Drucker. Da scheint etwas aus einem Gewebe zu entstehen. Lange kann sie nicht zuschauen, da nervt immer noch das Geräusch aus der Küche. Schon wieder der Hauslieferdienst. Bitte im Kühlschrank Sektor K9 mit dem dort stehenden Container austauschen. Bitte den leeren Container hier ablegen. Als Rina die Kühlschranktür öffnet, blinkt es unten links. Richtig, da befindet bei K9 bereits ein Container. Schnell ist der Wechsel erfolgt.

Pling. Pling. Wieder der Computer. Guten Morgen Rina. Herzliche Gratulation zum Geburtstag. Es warten 56 Mails mit Geburtstagswünschen. 17 davon enthalten Aufträge für den 3D-Drucker. 22 Mails enthalten Bilder. 327 Spam-Mails wurden direkt in den digitalen Papierkorb verschoben.

Es zeigt sich ein grosser Chor auf dem Bildschirm, der nun im Endlos-Loop Happy Birthday singt. Zwischen den einzelnen Wiederholungen liest der Computer die eingegangen Mails vor.

Pling. Pling. In der Mitte unten erscheint ein neues Fenster. Auf rot blinkendem Hintergrund ist zu lesen, dass 13 der Glückwünsche mit Aufträgen für den 3D-Drucker Schokolade oder andere Süssigkeiten enthalten würden. Die Süssigkeitenmenge übersteige das für ein gesundheitliches Wohlbefinden angemessene Mass erheblich. Beim Klick auf den OK-Button werde der Computer die Druckaufträge so über die nächsten drei Wochen verteilen, dass ein vernünftiges Mass an Süssigkeiten nicht überschritten werde. Ganz klein sind zwei weitere Buttons zu sehen, für die doppelte und für die vierfache Süssigkeitenmenge. Weil Rina in den nächsten Tagen einige Gäste erwartet, wählt sie die Vierfach-Option. Der Computer bestätigt mit einem Doppel-Bling. Auch wenn der virtuelle Chor immer noch singt, ist aus der Küche schon wieder das bekannte Geräusch zu hören. Das ist nun wohl der angekündigte Schokoladen-Spritzbehälter.

Beim Vorbeigehen am Drucker erkennt Rina, dass da gerade ein Halstuch entsteht. Dieses Muster kennt sie doch, das kann nur von ihrer Schon-immer-Freundin Liselotte entworfen worden sein.

Nach dem Einräumen des eben gelieferten Containers erfordert bereits wieder der 3D-Drucker ihre Aufmerksamkeit. Der Bedienroboter streckt ihr das fertige Halstuch entgegen, und lässt es los, als sie es ergreift. Schnell legt sich Rina das Tuch um den Hals. Das Gewebe fühlt sich anschmiegsam an, gibt angenehm warm. Der Drucker ist bereits wieder an der Arbeit, da scheinen Handschuhe zu entstehen.

Bling. Bling. Schon wieder aus der Küche. Doch da ist ein neuer, ein aufdringlicher Ton zu hören. Das ist doch …

… die Türklingel. Sofort ist Rina wach, springt aus dem Bett, schlüpft in den Morgenrock. Mit einer schnellen Bewegung stoppt sie den Bling-Wecker, und eilt zur Türe. Im Treppenhaus steht die Fahrerin einer der vielen Lieferdienste, streckt ihr mit einem Lachen eine Kartonschachtel entgegen.

Jetzt haben Sie Glück gehabt. Normalerweise läute ich höchstens zwei Mal, aber heute habe ich es ein drittes Mal probiert, weil ich den Wecker gehört habe. Ich wünsche einen schönen Tag. Und sie verschwindet die Treppe hinunter.

Einen Moment bleibt Rina stehen, mit der Schachtel unter dem Arm. Gestern Abend hat sie einige Internet-Artikel über die neuesten 3D-Drucker gelesen. Es soll die ersten Modelle geben, die Lebensmittel verarbeiten können. Es gibt auch bereits Produkte, die Kleider herstellen können. Statt aufzuwachen, hatte der elektronische Weckerton aus diesen Internetberichten einen anstrengenden Morgentraum bewirkt.

Langsam geht Rina in die Wohnung zurück, schliesst die Tür, setzt sich an den Tisch in der Küche. Sie öffnet das Paket. Herzliche Gratulation zum Geburtstag, Rina!, steht in Pink-Zuckerguss auf einer dunklen Schokoladenkreation. Und darunter liegen ein Halstuch und ein Paar Handschuhe. Dieses Muster hat sie also schon mal gesehen, als sie kürzlich unverhofft bei Liselotte zu Besuch war.

Rina sitzt am Tisch, nimmt hin und wieder einen Schluck Tee, und staunt immer noch, wie sich einige ihrer Erinnerungen in einem Traum zusammengefunden haben, der überraschende Gemeinsamkeiten mit der Realität zeigt. Das ist ein zwar anstrengender, aber auch anregender Start in den Geburtstag!

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