Die Reise nach nirgendwo

Sorgfältig öffnet Emilio das Paket, welches der Kurier an der Wohnungstür abgeliefert hat. Das musste das Buch mit dem Bericht über seine seit langer Zeit gewünschte Reise nach Spitzbergen sein. Noch eingeschlagen in feines Seidenpapier liegt das Buch in seinen Händen, es fühlt sich gut an, ein richtig gewichtiges Buch in einem grosszügigen Format.

In der Schachtel liegt noch ein Umschlag mit dem Aufdruck «Ludwig Gelbsand, Entwünscher». Da musste noch die Schlussabrechnung drin sein mit dem Einzahlungsschein für die letzte Tranche der Reisekosten. Das Buch gehörte selbstverständlich mit dazu.

Während Emilio daran geht, die Kleber des Seidenpapiers sorgfältig zu entfernen, erinnert er sich an seinen ersten Kontakt mit Herrn Gelbsand und an seinen Werbespruch «Ich erfülle Ihre Reisewünsche!». Eine gute Sache: Herr Gelbsand übernahm es, die Wunschreise durchzuführen, und einen ausführlichen Bericht dazu abzuliefern. Die Sache war nicht billig, aber das gehörte ja bei vielen Wünschen dazu. Und zudem konnte er in dieser Zeit trotzdem der Arbeit nachgehen.

Endlich liegt das Buch vor ihm auf dem Tisch. Auf dem Umschlag prangt ein grandioses Bild mit den Spitzbergen, wahrscheinlich vom Schiff aus aufgenommen. Ungeduldig öffnet Emilio das Buch, und traut seinen Augen nicht. Auf dem Innenblatt folgt der Titel: «Spitzbergen – Sommer 2013. Reisetagebuch von «. Nein, eben nicht «Emilio», sondern «Romana». Auch die Schlussrechnung liess keinen Zweifel daran: Herr Gelbsand hatte ihn betrogen, er hatte seine Wunschreise nicht nur für ihn allein, sondern noch für eine weitere Person gemacht – und dafür nochmals kassiert. Trotzdem blättert Emilio weiter durch das Buch. Eine spannende Reise, bestens dokumentiert. Reisedokumente, Hotelquittungen und Restaurantrechnungen, auf den Namen von Romana ausgestellt, ergänzen die vielfältigen Bilder und den gut geschriebenen Reisebericht. Wirklich eine gute Sache, diese Wunschreise.

Drei Wochen später beugt sich Einzelrichterin Christina U. über die Inhalte von drei Mappen mit identischen Anzeigen von drei Personen, die sich betrogen fühlten. Der Täter bestätigte den Sachverhalt, also eigentlich eine einfache Sache. Die Story dahinter war allerdings geradezu amüsant, eine aus der Rubrik «Und wenn es nicht wahr ist, ist die Geschichte wenigstens gut erfunden». Der Täter hatte drei Menschen gefunden, denen er versprach, für sie ihre Wunschreise auszuführen. Alle drei hatten als Reiseziel Spitzbergen angegeben, sie waren davon ausgegangen, dass der Täter als ihr Wunschausführer für sie als Individualreisender unterwegs war. Und die drei Wunschreisenden hatten entsprechende Anzahlungen geleistet. Aufgeflogen war der Betrug, als der Täter die professionell gemachten Reisetagebücher an die falschen Adressen geschickt hatte. Nur: der Täter bestritt jede Betrugsabsicht. Er habe nie gesagt, dass er die Reisewünsche einzeln erfülle, er habe nur eine Dokumentation über die Reise zugesagt, und das habe er gemacht. Und er meine, dass diese Reisedokumentation so viel Wert habe, wie seine Kundinnen und Kunden dafür bezahlen müssten. Und als Beleg hatte der Täter ein Exemplar des Reisetagebuches beigelegt.

Christina öffnet das Buch, blättert darin, bestaunt die Bilder, liest mit Interesse die Beschreibungen von Reiserouten und Örtlichkeiten. Welcher Zufall, Spitzbergen, das ist auch einer der Orte auf ihrer Wunschreiseliste. Nach einer Weile lehnt sie sich im Stuhl zurück, sinnt über ihre Reisewünsche, hin und wieder gebremst durch Gedanken zur bevorstehenden Verhandlung.

Nochmals drei Wochen später. Die Klagenden und der Beklagte im Spitzenbergen-Reisetagebuch-Fall treffen sich im Sitzungszimmer der Einzelrichterin. Christina U. ist zum Schluss gekommen, dass sie zuerst mit allen Beteiligten sprechen möchte. Hätte Herr Gelbsand beim Einpacken besser aufgepasst, wäre die Angelegenheit nie bei ihr gelandet – und die Wunschreisenden wären glücklich und zufrieden. Sie würden voll Stolz all ihren Freunden und Bekannten das Reisetagebuch zeigen, und diese würden sich Gedanken darüber machen, ob Spitzbergen als Reiseziel in Frage kommen könnte. Sicher, weil Herr Gelbsand die gleiche Reise drei Mal verkaufen konnte, hatte er sicher gut verdient bei diesem Geschäft. Andererseits waren Menschen, die sich von andern ihre Wünsche erfüllen lassen wollten, eigentlich selber schuld, wenn sie sich in dieser Geschichte betrogen vorkamen. Christina U. wollte bei diesem Gespräch erreichen, dass die Anzeigen gegen Herr Gelbsand zurückgezogen wurden.

Nach einer Stunde ist es soweit. Alle Beteiligten haben sich auf das von Christina U. vorgeschlagene Vorgehen geeinigt. Herr Gelbsand wird einen Drittel des Vorschusses zurückzahlen, die drei Klagenden erhalten die Bücher mit ihrem Namen, und alle unterschreiben eine Vereinbarung, dass damit die Sache erledigt sei. Nach der Unterschriften-Prozedur fragt Christina nach, ob jetzt bezüglich Spitzbergen alle wunschlos glücklich seien. Niemand antwortet. Sie sieht nur Kopfschütteln, und in den Gesichtern liest sie einerseits Belustigung, andererseits Bedauern.

Herr Gelbsand, bleiben Sie noch, ich brauche von Ihnen noch eine Unterschrift.

Die drei Wunschreisenden haben das Sitzungszimmer verlassen, Christina U. schliesst die Türe. Sie legt Herrn Gelbsand das Einvernahmeprotokoll vor, wo noch seine Unterschrift fehlt. So, dann können wir diese Geschichte abschliessen.

Nun, ich gehe davon aus, dass Sie mir nicht sagen werden, wie vielen Menschen Sie dieses Buch bereits verkauft haben. Es ist ein gutes Buch, und Ihre Kundinnen und Kunden haben genau das erhalten, was Sie ihnen versprochen haben.

Sie schweigt eine Weile, Herr Gelbsand rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her, da musste noch mehr kommen.

Herr Gelbsand, Sie waren noch nie in Spitzenbergen. Protest ist sinnlos, ich habe sehr viele der Bilder in Ihren Büchern im Internet gefunden, auf Internet-Seiten von Menschen, die tatsächlich auf Spitzbergen waren. Eines der Bilder haben Sie spiegelverkehrt ins Buch getan. Ihr Geschäftsmodell ist sicher kein schlechter Lebensunterhalt, aber mir gefällt es trotzdem nicht, auch wenn es legal ist.

Ludwig Gelbsand streckt sich, setzt zum Sprechen an.

Ja, Sie haben recht, ich war noch nie in Spitzenbergen. – Er schweigt, denkt nach. – Ich weiss nicht, ob ich mehr Angst habe vor den Eisbären, die dort frei herumlaufen sollen oder vor den Eisbärjägern, die zum Schutze der Spitzbergen-Reisenden unterwegs sind.

Sie müssen sich nicht verteidigen. Aber ich mache Ihnen ein Angebot. Ich will nach Spitzenbergen reisen, ich erfülle meine Wünsche lieber selber, als mich davon entwünschen zu lassen. Und Sie werden mich begleiten. Über den Preis des Buches zu unserer Reise werden wir uns noch unterhalten.

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