Klänge

Wer sich an diesem Morgen vom Radiowecker in den Tag zurückholen lässt, erfährt es jede Minute von neuem.

Heute morgen liegt ein Klang über der Stadt, ganz fein, machmal wie eine Melodie, dann wieder nur einzelne Töne. Sie müssen sehr gut horchen, der Klang ist ganz leise. Es ist unserer Reporterin am Hauptplatz nicht gelungen, den Klang mit dem Mikrofon einzufangen. Also: gehen Sie früh genug aus dem Haus, damit Sie etwas von diesem Klang mit in den Tag hinein nehmen können.

Vor dem Bahnhof tragen die Kolporteure der Gratiszeitungen grosse Plakate mit sich. «Psst!» ist mit grossen Buchstaben festgehalten, «heute mit Extrablatt» steht auf der Rückseite. Auch das Extrablatt berichtet vom Sound in der Stadt. Pendlerin Anna A. – mit Bild – wird zitiert: «Zuerst habe ich nichts gehört. Aber als ich einige Schritte von der Bahnhofstrasse in eine Seitengasse gemacht habe, waren die Töne da. Ganz leise, ganz fein. Blockflötenmusik, das habe ich früher selber auch gespielt.» Auch Ernesto C. berichtet von seinem Hörerlebnis: «Zuerst war da noch eine Strassenbahn, das hat ziemlich gequitscht beim Bremsen. Aber dann: Jagdhornstösse, von ganz weit weg, dann ein bisschen näher, später wieder etwas weiter weg. Wie bei einer Jagd halt.» Eine ganze Seite mit solchen Statements – die einen Bilder zeigen noch etwas verschlafene Gesichter, andere sind schon hellwach. Die Berichte zeigen das ganze Spektrum von Instrumenten und Klängen.

Eine der Telefongesellschaften hat eine SMS-Meldung versandt zu den Klängen in der Stadt. Die Wartenden an der Haltestelle des City-Ringbusses zeigen sich gegenseitig die Bildschirme ihrer Mobile-Geräte. Manche gehen etwas weg aus der Gruppe, formen mit der Hand eine Hörmuschel. Hin und wieder ein verzücktes Lächeln, ein geniesserisches Augenschliessen. Schon wieder hat jemand Morgentöne gehört. «Wow, das war zwar weit weg, aber super Hard Rock». Die Zugehörige Handbewegung oder das Stapfen mit dem Fuss zeigt den Beat an. Ein bisschen des Lächelns bleibt zurück.

Im Park besammelt sich eine Gruppe von Rentnern, mit den Rucksäcken und den groben Schuhen sieht es nach einer Frühlingswanderung in den Voralpen aus. Immer wieder sind Hände zu sehen, die sich um die Ohren legen. «Das sind doch einfach die Stadtsymphoniker, die heute eine Morgenprobe abhalten», meint einer und zeigt mit der Hand in Richtung der Stadtmusikhalle. «Dann haben die heute aber einen speziellen Sound drauf, für mich tönt das nach singender Säge.» «Für mich kommt das von der Kirche da hinten, das ist ORgelmusik, da ist glaube ich ein Frühgottesdienst», erklärt überzeugend ein weiterer der Wanderer.

«Mir scheint, heute sei ruhiger als an anderen Tagen», sagt ein Polizist zur Patrouillien-Kollegin, als sie mit kräftigen, zielgerichteten Schritten die Einkaufspassage queren. «An den Kreuzungen beschleunigen die Autos deutlich ruhiger, und auch die Passantinnen und Passanten schreien nicht so herum wie an anderen Tagen.» «So süss, ich höre eine Spieldosenmelodie!» Nach einer kurzen Pause zum Hören: «Und welche Musik hörst Du?» «Ich? Ich höre nichts, ich bin erkältet und habe seit Tagen Watte in den Ohren. Eigentlich schade. Ich würde so gern World Music hören auf der Patrouille.»

Alle Fenster des Schulhauses gerade neben dem Innenstadt-Parkhaus sind geöffnet, in jedem Fenster stehen drei oder mehr Schülerinnen und Schüler, hin und wieder auch ein Lehrer oder eine Lehrerin. Selbst wenn man nichts von den Klängen, die über der Stadt liegen, wüsste, ist am Verhalten der Menschen in den Fenstern abzulesen, dass sie versuchen, einen fernen, schwierig zu hörenden Klang wahrzunehmen. Wie in gespenstisches Ballet sehen die Bewegungen aus, es sind kaum Worte oder Laute zu hören.

In Räumen ist von den Klängen nichts zu vernehmen. Dies ist nicht weiter verwunderlich, scheinen doch draussen die Töne von weit weg zu kommen. Den ganzen Tag hindurch sind überall in der Stadt Menschen zu sehen, die den Klängen in der Stadt nachhorchen.

Im späteren Nachmittag folgt eine neue Schlagzeile: Die Stadtklänge waren ein Kunstprojekt der städtischen Musikschule. Die Klänge, die Musik, die die Menschen den ganzen Tag hindurch in der Stadt gehört haben, war reine Imagination, war Einbildung. Die Menschen haben das gehört, was sie hören wollten, weil sie meinten, etwas hören zu müssen.

In den Internetforen der digitalen Zeitungen waren die Meinungen geteilt – von Blödsinn bis zu genialer Aktion war fast jede Abstufung von Einschätzungen zu lesen. Die Stimmen der PassantInnen in den Gratiszeitungen am Abend sahen die Sache gelassener: sie habe noch nie an einem ganz normalen Wochentag so viele gut gelaunte Menschen, viele mit einem leichten Summen sogar, meinte etwa Natalie B.; ihre Begleiterin Zoe K. bestätigte dies und fügte an, sie habe bei vielen ihrer Arbeitskolleginnen und -kollegen über den gehörten – und damit wahrscheinlich – bevorzugten Musikstil gestaunt. So viel Vielfalt, das habe sie nie erwartet. Mark K. wiederum meinte, wahrscheinlich werde er zukünftig viel bewusster Musik hören, vor allem werde er nicht mehr dauernd mit einem Knopf im Ohr herumlaufen. Es gebe so viele Geräusche in der Stadt, von denen er bis jetzt nicht so viel mitbekommen habe.

In der abendlichen Tagesschau wurde die Initiantin der Aktion, die Musik-Masterstudentin Silene Markwald, befragt. Sie habe vor allem positive Stimmen gehört, insbesondere hätten sich auch die politischen Verantwortlichen für die Musikschule sehr wohlwollend geäussert. Spannend sei, welche Menschen das Wort «Imagination» gebraucht hätten und welche «Einbildung». Der Erfolg der Aktion zeige, wie wichtig Töne, Klänge, Musik im täglichen Leben der Menschen seien. Leider könne eine solche Aktion nicht wiederholt werden, weil eine solche Überraschung nicht mehr möglich sei. «Welche Musik haben Sie denn heute gehört, Frau Markwald?», wollte der Moderator zum Schluss wissen. «Ich habe heute den ganzen Tag nur Handy-Klingeltöne im Ohr gehabt – wenn ich selber hätte hören können, hätte ich die Klänge von Frühlingsglocken gehört!»

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