Pling! «Die Zeiterfassung steht zur Zeit nicht zur Verfügung».
Frank überfliegt die «Betreff»-Zeile des neu eingetroffenen Mails flüchtig – schon wieder eine interne Mitteilung, dass eine der teuersten Software-Applikationen des Unternehmens nicht zur Verfügung steht. Wie viel Aufwand und Zeit doch dieses Projekt bereits verschlungen hat. Frank seufzt. Er schliesst kurz die Augen, deckt die Augenhöhle mit den Händen ab – eine kurze Entspannungsübung.
«Zeiterfassung nicht zur Verfügung»! Daran bleibt er hängen, seine Gedanken schweifen ab. Als Insider weiss er, dass die Zeiterfassung zur minutengenauen Abrechnung der Arbeitszeit unerlässlich ist. Nun, in einer halben Stunde, vielleicht auch erst in einigen Stunden, kurz vor Feierabend, wird ein weiteres Mail kommen: «Die Zeiterfassung steht wieder zur Verfügung». Es hat auch schon eine ganze Woche gedauert, bis die Applikation wieder funktioniert hat, man munkelt im Betrieb, dass dieser lange Unterbruch der Grund war, warum der kurz vor der Pensionierung stehende Chef der Computerabteilung sehr schnell in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde.
Warum sagt denn eigentlich das Mail nicht, dass es nur um die Erfassung der Arbeitszeit geht? Die Arbeitszeit macht schliesslich nur einen Teil der Lebenszeit aus. Wie wäre es, wenn hin und wieder, nicht vorhersehbar, mal für kurze Zeit, dann wieder für längere Zeit, die Zeiterfassung der Lebenszeit ausfallen würde? Alle Uhren dieser Erde bleiben stehen, auch die Lebensuhr – die Welt rundherum ohne Zeit geht weiter.
Im Park nach der Mittagspause sitzen bleiben – am ersten warmen Frühlingstag die noch blattlosen Baumriesen von den Wurzelansätzen über die dicken Stämme und die Hauptäste bis in die feinsten Verzweigungen oben in der Krone bestaunen, gewaltiger als jedes Mensch gemachte Denkmal, Riese um Riese.
Den Enten aus dem Teich auf der grossen Wiese im Park zuschauen, wie sie das erste zarte Grün abweiden. Und daneben die vielen bunten Krokusblüten, die hin und wieder Besuch erhalten von den ersten Bienen dieses Frühlings.
Sich in der verzwickten Geschichte eines Krimis verlieren und dabei nicht die Zeit vergessen müssen.
Zeitlos.
Oder wäre es besser, die Zeit ohne Zeit zu nutzen, sich den weniger angenehmen Dingen anzunehmen? Zum Beispiel alle jene Mails zu löschen, die die Geschichte des grössten Projekt-Misserfolges erzählen. Oder endlich jenes Telefon zu machen, welches eine verrenkte Sache wieder begradigen könnte?
Was zählt mehr im Leben? Erfolg, Zufriedenheit, verpasste Chancen, Glück oder Pech?
Pling! «Die Zeiterfassung steht wieder zur Verfügung».
Mitten aus den Gedanken gerissen, zurück in der Zeit. Zurück in der Arbeitszeit. Denn spätestens am nächsten Tag wird der Computer melden, dass es noch Lücken in der Arbeitszeiterfassung gibt.
Vielleicht wäre dies ja auch so, wenn die Lebenszeiterfassung hin und wieder ausfallen – die Zeit lässt sich nicht vorwärts oder rückwärts bewegen.
Pling! Schon das nächste Mail. Das ruft nach einer klugen Antwort.
Einige Stunden später schaltet Frank den Computer aus und verlässt das Büro. Kurz vorher hat er noch die Arbeitszeiten des heutigen Tages erfasst. Und hat sich dabei an die Episode mit der zeitlosen Zeit erinnert. Die Gedanken dieser Entspannungspause kommen zurück, als Frank sich auf den Weg zur nächsten ÖV-Haltestelle macht, in den bald haltenden Bus einsteigt und ins Aussenquartier fährt, wo er sich mit Kollegen zum wöchentlichen Lauftraining treffen wird.
«Jede Minute zählt», steht auf dem Begrüssungsbildschirm der Zeiterfassungs-Applikation. Frank kommt zum Schluss, dass diese Aussage auch in seinem Unternehmen nicht immer gilt, gibt es doch auch Vorgaben, die zwar für die Zeiterfassung auch nutzbar, aber nicht zur Verrechnung vorgesehen sind. Frank schmunzelt, als er sich erinnert, dass er die 20 Minuten Zeiterfassungspause unter Weiterbildung verbucht hat. Das war es wirklich, Lernen von Zeiterfahrung. Gibt es wohl Momente im Leben, die ich nicht erlebt haben möchte, fragt sich Frank. Gibt es Momente, die ich nochmals erleben möchte? Frank ist sich nicht sicher. Er erinnert sich gerne an viele Momente, aber diese nochmals erleben? Da war doch etwa dieser wunderschöne Sonnenuntergang an der französischen Atlantikküste, während einer ganzen Betriebssystemgeneration hat ihn der Bildschirmhintergrund an diesen Moment erinnert. Genauso nochmals erleben, meint Frank, wäre allerdings nicht vorteilhaft: an so viele Mückenstiche in so kurzer Zeit mag er sich nämlich sonst nicht erinnern. Wenn es die Möglichkeit geben würde, die Lebenszeiterfassung abzuschalten, er wüsste nicht, für welche Momente er sich entscheiden müsste.
Beim lockeren Einlaufen legt Frank diese Gedanken zur Seite. Morgen, so merkt er sich noch, wird er ein Mail an die Leiterin der Computerabteilung senden mit der Bitte, neu als Slogan auf der Startseite festzuhalten: «Jede Sekunde lohnt sich».