Ich bin Geschichtenerzähler. Meistens schreibe ich Geschichten, damit Du sie lesen kannst, hin und wieder erzähle ich sie auch. Nun, ich kann leidlich gut davon leben, und ich habe immer noch Spass am Erzählen von Geschichten. Meine Vorfahren viele Generationen zurück waren auch Geschichtenerzählerinnen und Geschichtenerzähler, auch in Deiner Familie gab es sicher solche. Viele haben es vielleicht gar nicht gewusst, Leben konnten sie davon gar nicht. Darum bilde ich mir auf meinen Job auch gar nichts ein: ich erzähle einfach das, was eh schon in der Luft liegt.
Mein Name ist Wulff, und wenn wir schon dabei sind: ich erzähle Geschichten am liebsten Menschen, die ich gut mag, und das geht mit dem Du viel leichter. Ich erzähle Geschichten, weil ich davon ausgehe, dass Geschichten unterhalten. Und wenn dann noch diese oder jene neue Idee daraus entsteht, bitte, da wehre ich mich sicher nicht!
Kurzgeschichten mag ich sehr, die erzähle ich auch sehr gerne, Episoden aus dem Alltag, erheiternd, manchmal auch ernüchternd. Und dann natürlich die grossen Sachen, Krimis zum Beispiel. Ich werde immer wieder gefragt, warum ich denn überhaupt Krimis schreibe, mit all diesen Toten. Für mich geht es bei den Krimi-Geschichten um die Auseinandersetzung mit der urmenschlichen Frage von Recht und Unrecht und vom Umgang der Menschen damit. Ich versuche, in meinen Krimis den Wert des Lebens auszudrücken, indem ich darüber berichte, wie viel Aufwand, wie viel Klugheit ErmittlerInnen treiben, um gewaltsame Tode aufzuklären – verbunden mit der unmissverständlichen Botschaft, dass sich Gewalt nicht lohnt, nicht lohnen darf.
Ich schreibe hauptsächlich Öko-Krimis. Über jene, die die Umwelt übermässig belasten, ob absichtlich, freiwillig oder ungeplant. Und über jene, die sich für weniger Umweltbelastung einsetzen. Es geht also wieder um das Leben. Und wegen eines solchen Öko-Krimis entstand diese Geschichte.
An einem Sonntag-Morgen öffnete ich ein neu eingetroffenes E-Mail, ein E-Mail von Rägi, einer Schulfreundin, lange ists her, aber das wäre bereits wieder eine andere Geschichte, auf jeden Fall kein Krimi. Rägi, mit der ich sicher zwanzig Jahre keinen Kontakt gehabt habe, berichtete mir von ihrer Arbeit: als Computerlinguistikerin leitet sie ein grosses Teilprojekt eines globalen Vorhabens, in dem versucht wird, Computerprogramme zu entwickeln, die in der Lage sind, Texte zu interpretieren – auch sie brauchte das Wort «verstehen» nicht. Was mich immer wieder fasziniert: wenn ein Buch digital zur Verfügung gestellt wird, braucht das Titelblatt mehr Speicherplatz als der Textinhalt. Menschliche Gedanken brauchen nicht viel Platz, schon gemachte Bilder schon. Deshalb plädiere ich für Gedanken und rege an, die Bilder selber im Kopf zu machen. Aber auch das wieder eine andere Geschichte, und ich versuche, nicht mehr abzuschweifen, aber das gelingt den GeschichtenerzählerInnen erfahrungsgemäss eher schlecht.
Rägi arbeitet mit ihrem Team also daran, Texte durch den Computer zu interpretieren. Der Prototyp eines der Computerprogramme dieses Projektes vergleicht aktuelle Zeitungsmeldungen mit den im Internet gespeicherten Geschichten, von der Weltliteratur bis hinab zu den Krimis, wie auch ich sie schreibe. Rägi schreibt dazu: «Wir werden immer wieder überrascht, wie gross die Übereinstimmung zwischen den erfundenen Texten und der Realität aus den Zeitungsmeldungen ist. Oder anders: was Menschen sich in Texten ausdenken, passiert tatsächlich. Manchmal ist die Übereinstimmung geradezu erschreckend, und ein solches Beispiel betrifft einen Deiner Krimis. Vor einigen Wochen wurde ein Atomenergieforscher in Belgien überfallen, und die Computer haben herausgefunden, dass der Überfall zu 95 Prozent mit einem Ereignis übereinstimmt, welches Du als Teil Deines Krimis geschrieben hast. Mit anderen Worten: entweder bist Du der Täter (was ich ausschliesse), oder der Täter oder die TäterInnen haben Dein Buch als Rezept verstanden.» Und Rägi fügte bei, dass man sich als Nebeneffekt ihres Projektes überlege, ob man den Regierungen vorschlagen solle, Krimis zu verbieten. Und da der Ironie-Smiley 😉 bei diesem Satz fehlte, musste ich davon ausgehen, dass solche Sachen ernsthaft erwogen werden.
Damit war natürlich mein Sonntag verdorben. Der Vorwurf ist bekanntlich uralt, dass Krimi-AutorInnen eigentlich verhinderte TäterInnen seien, die eigentlich nur aus Klugheit, oder wahrscheinlich eher wegen der intellektuellen Beschäftigung mit dem Thema, daran gehindert würden, die Taten auch tatsächlich umzusetzen. Damit sollen sich die PsychologInnen beschäftigen. Der Vorschlag von Rägi geht viel weiter: verantwortlich für den Mensch gemachten Klimawandel wären dann nämlich nicht jene, die Treibhausgase ausstossen, sondern jene, die auf diese Zusammenhänge hinweisen. Oder bei Wirtschafts- und Finanzkrisen wären es die WissenschafterInnen und JournalistInnen, die darauf hinweisen, dass zu Gewinnen immer auch Verluste gehören. Der Überbringer der schlechten News als Schuft – das haben schon die alten Griechen so gesehen!
Trotz der schweren Gedankenwälzerei machte ich wie immer meinen Abendspaziergang, sass eine Weile auf der Sitzbank beim Aussichtspunkt hoch über der Stadt, genoss die letzten Strahlen der Abendsonne – und legte mir die Antwort an Rägi zurecht.
So schrieb ich denn am Montag-Morgen: «Liebe Rägi. Ich danke sowohl für das Mail wie für Dein Vertrauen, nicht als Täter in Frage zu kommen. Gestern abend sass ich auf einem Ruhebank über der Stadt und genoss den warmen Sommerabend. Viele angenehme Gedanken gingen mir – wie schon vielfach bei solchen Gelegenheiten – durch den Kopf. Und Du wirst, wenn Du meine Krimis lesen würdest, viele solcher Gedanken auch in meinen Texten finden. Auch wenn ich Deine Arbeit spektakulär finde, und wenn mich beeindruckt, dass sogar meine Krimis in Eurer Datenbank gespeichert sind, gehe ich davon aus, dass Eure Computer diese hübschen Stellen nicht finden. Dies hat auch damit zu tun, dass solche News nicht in die Zeitung kommen. Stell Dir, es hiesse da «Herr Wulff X. sass am Sonntag-Abend am Waldrand, genoss den Sommer, liess seine Gedanken schweifen und fand dabei einige unterhaltende, festhaltenswerte Gedankensplitter, die er vielleicht in seinen nächsten Öko-Krimi einarbeiten wird.» Gedanken sind bekanntlich frei, sie mögen auch hin und wieder einen Einfluss auf die Menschheit haben. Auch ohne Krimis würde es Kriminalfälle geben, da bin nicht nur ich sehr sicher. Ich will Dir nichts unterstellen, aber Du hast doch sicher auch schon die Idee gehabt, es wäre super, diesen oder jenen, diese oder jene einfach von der Erde verschwinden zu lassen, sei dies nun ein Nachbar oder eine Staatspräsidentin. Und mit meinen Krimis zeige ich auf, welches Leid solche Taten bewirken, dass sie nicht lösungsorientiert sind, dass es Menschen gibt, die nicht nachgeben, die alles daran setzen, die Täterinnen und Täter in die Verantwortung zu nehmen. Vielleicht ist dies eine Ausflucht, aber ich meine nach wie vor, dass ich mit meinen Geschichten dazu beitrage, dass die Welt ein kleines kleines Bisschen besser wird. Wenn dem so ist, bin ich nicht stolz darauf, aber es freut mich. Ich lade Dich gerne zu einem Sonntagabend-Spaziergang ein!».
So kam es denn einige Wochen später auch. Wir sassen zusammen über der Stadt, sprachen über Geschichten, über Computerlinguistik, darüber, was die Welt besser macht. Erst die ersten grossen Tropfen eines schnell herannahenden Gewitters trieben uns zurück in die Stadt, wo Rägi gerade noch den letzten Zug zur Rückreise erreichte.
Die Computerforschungen von Rägi und ihrem Team haben unter anderem die Absicht, passende Werbelinks zu aktuellen Internet-Artikeln zu finden. Und zum Beispiel zu verhindern, dass neben den Bericht am Mord eines Fussballstars Werbung für Pistolen oder Fussballschuhe plaziert wird. Sie überlegt sich nun, wie man Links finden kann, die ohne Verkaufsabsichten Trost spenden, wenn der Artikel einen traurigen Hintergrund hat – oder sogar bewusst auf Links zu verzichten in solchen Situationen. Oder wie sich Links einbauen lassen, die zum Beispiel bei Berichten über den Mensch gemachten Klimawandel zum eigenverantwortlichen Handeln auffordern. Mein nächster Öko-Krimi wird mit Sicherheit auch mit Computern zu tun haben, wird versuchen, noch stärker die lebensbejahenden Botschaften, das Nein zur Gewalt als Handlungsoption darzustellen.
Denn: wenn sich die Geschichten tatsächlich selbständig machen sollten, dann habe ich als Geschichtenerzähler noch mehr Einfluss, als ich mir gedacht habe. Aber deswegen keine Geschichten mehr erzählen? Nein, das geht wirklich nicht! Und ich bleibe dabei: Geschichten schreibe ich, um Dich zu unterhalten, und sicher auch, um einige Gedanken weiter zu geben – immer mit der Hoffnung, dass diese die Welt ein bisschen besser machen.