Leonie und Sebastian sind nach dem langen Theaterabend noch in einer Bar zusammengesessen, haben den Theaterabend und weitere gemeinsame Erlebnisse Revue passieren lassen. Kurz nach zwei Uhr machen sie sich auf Richtung Nachtbus-Station. Dazu müssen sie die Bahnhofstrasse queren.
Was ist da los? Grosse Hubbühnen sind unterwegs, Lastwagen mit starken Kranarmen stehen auf den Tramgeleisen.
Das sind ja die Leuchtstangen der Zürcher Weihnachtsbeleuchtung – immer Anfang Januar wird in den Betriebspausen der VBZ die Weihnachtsbeleuchtung über der Bahnhofstrasse demontiert.
Du, das ist ja das letzte Mal, das die hier entfernt werden. Weisst Du, was nachher damit passiert? Nein, keine Ahnung; auf jeden Fall gibt es für die nächsten Weihnachten eine Beleuchtung mit vielen kleinen Lichtern, Lucy heisst dieses Kunstwerk. Komm, wir schauen noch etwas zu.
Das Ballett der vielen Geräte ist beeindruckend – immer wieder fährt eine der Hubbühnen hoch, zwei Männer, Frauen sind wirklich keine dabei, lösen zuerst die untere Befestigung, fahren noch höher, sicher die Stange, hängen auch noch die obere Befestigung aus, lassen die Bühne sinken, übergeben die dunklen Leuchtkörper an die Männer, die sie in spezielle Halterungen auf den Lastwagen verfrachten. Gar nicht so einfach ist diese Arbeit zwischen all den gespannten Drähten, zwischen Tramstromversorgung und Lichthimmel. Doch alles geht sicher und in einem beachtlichen Tempo vor sich.
Eigentlich schade, meint Leonie. Als Weihnachtsbeleuchtung haben mir die Dinger nicht gefallen, aber es war eine super Idee – die Lichteffekte waren faszinierend, diese sich bewegenden Lichtbilder über der Strasse. – Ja, und das war auch eine ganz gute Arbeit, dass das überhaupt funktioniert hat, bei Wind und Wetter. Dieser ganze Aufwand, und nur fünf Mal wurde die Beleuchtung aufgehängt, ergänzt Sebastian, die vorherige war 34 Weihnachtszeiten in Betrieb.
Und da gab es doch mal diese Kühe, Löwen, Bänke und Bären in der Stadt, in Vorgärten oder auf Vordächern sind man immer wieder einzelne Exemplare. – Ich bin ja gespannt, wie viele von den Riesenblumentöpfen vom letzten Sommer wieder irgendwo zum Vorschein kommen, wie viele der schönen Pflanzen eine zweiten Sommer erleben.
Das ist ja etwa wie bei uns im Estrich: wie viele Sachen liegen dort, die wir eigentlich schon lange nicht mehr brauchen, aber die wir trotzdem noch nicht fortwerfen, weil wir den Eindruck haben, man könnte dieses oder jenes vielleicht nochmals brauchen.
Stimmt sogar, letzthin konnte ich aus der alten Weinflaschen-Kiste ein neues Vogelhaus bauen, als das alte beim Abnehmen vom Baum im letzten Frühling in die Einzelteile zerfiel. Und diese Kiste habe ich immerhin drei Mal gezügelt!
Vielleicht hat dies damit zu tun, dass sich Menschen zum Geburtstag ein langes Leben wünschen – wie lange genau, das lassen die Wünsche ja jeweils offen. Und dann übertragen die Menschen diese Hoffnung auf ein langes Leben auch auf die Dinge in ihrem Umfeld. Oder auch dies: auch wenn neue Dinge hin und wieder ganz interessant sind, den Menschen gefällt auch, was vertraut ist. Ein Blick etwa auf die Doppeltürme des Grossmünsters, und ich weiss, tatsächlich, ich bin in Zürich.
Genau, darum habe ich viel lieber wenige Dinge, die ich dann dafür lange behalte – und wenn die Sachen kaputt sind, suche ich so lange, bis ich etwas finde, das dem alten Stück möglichst nahe kommt.
Hey, da muss ich aber lachen, jetzt sind wir nämlich genau wieder bei der Weihnachtsbeleuchtung. Denn die neue Lucy soll fast wieder so aussehen wie der alte Baldachin – offenbar hats den Umweg über die Leuchtstangen gebraucht, dass alle sagen können: genau, so wie der alte Baldachin soll auch der neue aussehen.
Du meinst, die Menschen wünschen sich möglichst wenig neue Sachen, weil dies den Wunsch für ein langes Leben unterstützt?
Sicher nicht überall – bei den technischen Dingen kann ja der Wechsel nicht schnell genug gehen. Aber bei den Sachen, die mit Stimmung, die mit Traditionen wie Weihnachten zu tun haben, das soll wie ein Anker sein.
Leonie blickt auf die Uhr an der Tramhaltestelle. Du, wenn wir ein bisschen zügig laufen, erreichen wir gerade noch den Nachtbus.
Verwundert schauen die Hebebühnenarbeiter herum, als ihnen zwei der Zaungäste, die längere Zeit beim Abbau der Weihnachtsbeleuchtung zugeschaut haben, zurufen: Wir wünschen ein langes Leben!