Der Geschichtenwecker

Ich habe einen guten Kollegen, der sich als «Erfindet» bezeichnet – kein Tippfehler, obwohl auf meinem Computer eine dicke rote Fehlerschlange unter diesem Wort steht. Die guten Ideen, meint mein Kollege nämlich, liegen einfach herum, man muss sie bloss finden, nicht erfinden. Regelmässig darf ich seine Erfindetungen ausprobieren. Für einen schon etwas länger zurückliegenden Geburtstag hat er mir einen automatischen und ökologischen Grillwurstwender erfindet. Dieses Ding – eigentlich war es eine sehr grosse Maschine mit einer ganz kleinen Feuerplatte – funktionierte dank der Hitze des riesigen Feuers. Und wirklich, der Wurstwender wendete fleissig alle 60 Sekunden, solange ich anfeuerte. Sobald allerdings Grilltemperatur erreicht war, senkte sich die Wenderate auf einmal jede halbe Stunde. Schlicht unbrauchbar! Mein Erfindet hatte nicht berücksichtigt, dass man die Grillwürste nicht verbrennt, sondern langsam über der heissen Glut rösten lässt. Als Vegetarier hat der Erfindet allerdings auch keine Kenntnisse vom Grillen. Als ich ihn mal zu einer Grillparty am Holzfeuer im Wald mit einlud, wollte er von meinen Erfahrungen mit dem automatischen und ökologischen Grillwurstwender hören – als ich der Freundschaft zu liebe schwieg, interpretierte er das richtig. Dabei weiss ich, dass er nie im Leben beleidigt ist, wenn ich eine seiner Erfindetungen als untauglich bezeichne. Schliesslich weiss er, dass grosse Ideen nicht immer alltagstauglich sind.

Und so bekam ich kürzlich wieder an einem Geburtstag eine Erfindetung: Einen Wecker mit der Typenbezeichnung «nomeolvides»! Ich habe zwar schon einen Wecker, und ich benutze ihn auch, obwohl ich regelmässig vor der eingestellten Weckzeit wach werde. Dieses Wecker hatte allerdings gar keine Einstellmöglichkeiten, und auch keine Zeiger. Das sei eben Teil der Erfindetung, wurde ich aufgeklärt. Da sei ein kleines Programm drin, welches aus dem Biorhythmus, dem Horoskop und sonst noch einigen Faktoren den richtigen Weckzeitpunkt ermittle und mich dann mit einer zu meiner momentanen Stimmung passenden Geschichte wecke – quasselnde Menschen müssten so etwas einfach mögen.

Als neugieriger Mensch habe ich am Abend den Wecker auf dem Nachttischchen plaziert – und wurde prompt um Viertel nach Fünf geweckt, mit einem Witz, von Guschti Brösmeli erzählt. Da ich Witze nur lustig finde, wenn ich sie selber erzähle, fand ich das alles andere als lustig, auch darum, weil ich ausnahmsweise ausschlafen konnte. Das Ding war nicht zu stoppen, und wiederholte alle vier Minuten den gleichen Witz. Nicht zum Aushalten – ich musste das Elektronikzeugs auf den Balkon stellen. Weil ich nicht mehr einschlafen konnte, sandte ich meinem Kollegen stattdessen ein Mail mit der Bitte um einen Abstellknopf.

Am Abend war die Antwort da. Nichts da von Abstellknopf. Da sei ein Abstellohr eingebaut. Wenn ich laut «Grabesruhe» schreie, höre die Sache auf. Und weil ich sicher noch mehr Fragen habe, gebe es jetzt eine neue Rubrik zu diesem Wecker auf seinem Blog.

Zweiter Versuch am Morgen danach: ich war schon lange aufgestanden, als plötzlich vom Nachttisch Basler Schnitzelbänke ertönten, und dies mitten im Sommer. «Grabesruhe» nützte nichts. Ein erster Eintrag in den Blog – und am Abend die Antwort. Das Abstellohr verstehe nur bayrisch, das sei ein Open Source Applet aus dem Internet gewesen. Er habe eine neue Softwareversion erstellt, damit der Wecker ausschliesslich auf meine Stimme höre. Die neue Weckersteuerung könne ich im Internet finden. Ich solle jetzt einfach zehn Mal STOP rufen, und dann wisse der Wecker in Zukunft, wann fertig sei.

Am nächsten Morgen: einigermassen rechtzeitig, eine Till-Eulenspiegel-Geschichte. Schon hundert Mal gehört. Ich beschwere mich über die Auswahl der Geschichten. Am Abend die nächste Softwareversion. Neu müsse ich am Abend für 5 Minuten einen spezielle Badge tragen, und diesen anschliessend zum Wecker legen.

Ich werde am nächsten Morgen auf die Sekunde genau geweckt, mit einer Cabaretnummer aus dem vorletzten Jahrhundert. Laut Blog soll der Wecker 100’000 Geschichten vorrätig haben. Und da soll keine drin sein, die mir beim Wecken entspricht? Ich entscheide, es mal eine Woche zu probieren, ohne neue Reklamation auf der Blog-Seite. Leider leider muss ich berichten, dass es auch nach diesen sieben Tagen keine geeignete Weckstory gab. Ich beschwerte mich auf der Blog-Seite. Ich fand den Hinweis, es gebe wieder eine neue Softwareversion mit jetzt 250’000 Weckgeschichten. Zuversichtlich freute ich mich auf das Gewecktwerden am Morgen: wieder eine Niete! Ich gab der neuen Version nochmals eine Woche Einspielzeit, weil ja schliesslich alle Software beim Kunden «reift». Doch es stellte sich keine Besserung ein. Und mit der nächsten Beschwerde kam die nächste Wecker-Version.

Doch keine Geschichte fand den Weg an mein Ohr, ein sinnloses Zusammengeballe von Wortfetzen war es, was mich wecken sollte – zum Glück war ich schon vorher wach, sonst hätte sich mein Geist dieser Silbenversammlung verschlossen. Auf meine Beschwerde hin bat mich mein Kollege, doch diesmal sogar zwei Wochen auszuprobieren. Wenn ich schnell nach dem ersten Ton «Stop» rufe, wisse der Wecker, dass mir diese Geschichte nicht gefalle, wenn ich länger warte, gebe es am nächsten Tag mehr davon. Das Ergebnis dieses neuen Testes: in der Regel rief ich schon nach dem ersten Wort «Stop».

Und jetzt resignierte der Wecker! Am elften Tag kam nur noch ein ganz ordinäres Weckerpiepsen. Eigentlich gefällt mir das am Besten, dachte ich mir, brauche ich am Morgen nämlich gar keine Geschichten. Ich brauche nicht bei guter Laune eine lustige Geschichte, um mich bei Laune zu halten. Oder eine traurige, um mir den Wert guter Laune hinter die Ohren schreiben zu lassen. Wenn ich mir das so richtig überlege, bin ich nicht berechenbar, manchmal überrasche ich mich selbst.

Am Abend fand ich in meiner Mailbox eine Meldung des Erfindet. Jetzt habt Ihr Euch also gefunden, der Wecker und Du. Das freut mich – aber noch mehr freut mich, dass wir wieder regelmässig Kontakt hatten. Such doch mal «Nomeolvides» im Internet!

Nomeolvides – ist spanisch und heisst «Vergissmeinnicht»!

Am nächsten Tag wieder ein Mail.

Dieser Wecker ist ein Vergissmeinnicht – das ist mein Geschenk für Dich. Du kannst ihn weiterverschenken an jemanden, der oder die Dich nicht vergessen soll. Erzähl dieser Person eine Geschichte zu diesem Wecker, so, wie ich es bei Dir gemacht habe. Es ist ein Wunderwecker, er setzt Deine Geschichte um. Es ist im übrigen wie immer: ich hab Nomeolvides wirklich gefunden und nicht erfunden.

Bevor ich allerdings dazu kam, Nomeolvides weiter zu verschenken, hatte ich Pech. Bei mir wurde eingebrochen, und zusammen mit einigen weiteren elektronischen Gadgets wurde auch der Geschichtenwecker geklaut. Gefunden wurde nichts davon. Weil ja die Anleitung nicht mit dabei ist, dürfte der Wunderwecker Nomeolvides irgendwo in einem Gestell liegen, ohne dass Menschen von den Möglichkeiten profitieren können. Ich befürchte, dass er den Weg allen Elektronikschrots bereits gegangen ist oder noch gehen wird.

Ich erzähle diese Geschichte über meinen Kollegen, den Erfindet, darum überall herum – und vielleicht kommt eines Tages Nomeolvides wieder zurück, vielleicht sogar zu mir. Und wenn er zu Ihnen kommt, wissen Sie jetzt wenigstens, was Sie damit alles tun können. Vielleicht, eines Tages…

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