Jonas drückt schon lange die Nase an die kalte Fensterscheibe und späht in die dunkle Winternacht hinaus. Hin und wieder sieht er, dass dies im Nachbarhaus auch seine Klassenkollegin Ursula tut. Jonas wartet auf den St. Nikolaus, und der will einfach nicht kommen. Schon gehts gegen zehn Uhr, und weder sind die Glöcklein am Eselsgeschirr in den Strassen zu hören, noch ist der Schein der Kerzenlaterne zu sehen, die St. Nikolaus‘ Knecht jeweils trägt. Wo bleibt er wohl, der vorweihnächtliche, immer willkommene Besuch aus dem Wald?
Mama, ich hab da noch ein Problem mit meinen Mathi-Aufgaben. Darf ich noch ganz rasch Ursula anrufen?
Ja, mach aber schnell, und dann ab ins Bett, auch wenn der Nikolaus heute nicht gekommen ist.
Langsam wird es still in der Wohnung, zuerst verschwindet Jonas, noch vor seinen jüngeren Geschwistern, in seinem Zimmer. Kurz nach elf löscht der Vater das Licht. Nur noch selten ist draussen ein Auto zu hören. Jonas prüft nochmals die Weckzeit auf der Armbanduhr, sinkt in einen unruhigen Schlaf.
Es kommt ihm vor, als hätte er kaum geschlafen, als er kurz vor ein Uhr ganz leise die dunkle Wohnung verlässt, auf Zehenspitzen die Treppe hinunter schleicht, ganz langsam die Haustür öffnet, sich hinausdrückt und die Tür sorgfältig schliesst. Auch Ursula huscht gerade aus dem Haus. Schweigend begrüssen sie sich und machen sich auf den Weg zum Wald. Eine geheimnisvolle Ruhe, ein zauberhafter Sternenhimmel.
Nach einer halben Stunde stossen sie auf einen Zaun. Er sperrt den Zutritt zur vor wenigen Wochen eröffneten neuen Autobahn. Als sie ausatmend stehen bleiben, hören sie es: feine Glöckchen klingen durch die Nacht, leise, tiefe Stimmen sind zu vernehmen, ein Lichtschein irrt durch die Nacht. Ist dies wohl der Nikolaus, dort auf der andern Seite der Autobahn?
Bist Du das, Sankt Nikolaus? Was ist Dir passiert? Ganz laut ruft Jonas in die Nacht hinaus. Gespannt lauschen die beiden auf eine Antwort.
Ja, ich bin es, mit meinem Knecht und meinem Esel. Da ist ein Zaun, der mir im Weg steht, und auch links oder rechts komme ich nicht weiter. Was denken wohl all die Kinder, die ich heute nicht besuchen konnte? Das ist mir noch nie passiert. Ich kann doch die Kinder nicht im Stich lassen. Alle Säcklein sind prall gefüllt mit vielen feinen Sachen. Wenn die Mandarinen, Äpfel und Birnen nur nicht schlecht werden!
Ursula und Jonas schauen sich nachdenklich an. Plötzlich sieht Jonas ein Blitzen in ihren Augen.
Ich habs, Sankt Nikolaus, ruft sie. Komm morgen nochmals an diese Stelle, dann wirst Du einen Weg ins Dorf finden. Ich freue mich schon jetzt, wenn Du morgen kommst. Und jetzt gute Nacht.
Sie dreht sich um und läuft ganz schnell Richtung Dorf. Jonas muss grosse Schritte machen, damit er mitkommt. He, nicht so schnell, und was hast Du vor?
Langsam beruhigt sich Ursula. Ist doch ganz einfach. Die Polizei muss morgen abend die Autobahn sperren, dann kann man auf beiden Seiten ein grosses Loch in den Zaun machen, damit Nikolaus und seine beiden Begleiter vom Wald ins Dorf ziehen können.
Das ist zwar eine Superidee. Wie willst Du aber die Polizei überzeugen, dass sie das auch tut?
Lass mich nur machen. Mein Vater kennt den Gemeindepräsidenten, und wenn er es nicht schafft, ihn zu überzeugen, rede ich zwei Wochen nicht mehr mit ihm.
Noch eine Weile bereden sie den Vorschlag, dann werden sie immer stiller und langsamer, und sind froh, als sie endlich wieder im Dorf ankommen. Wenige Augenblicke später liegen sie bereits im Bett und versuchen wieder einzuschlafen.
Und, was hat Dein Vater zu Deinem Vorschlag gesagt? Erst in der Znüni-Pause kommt Jonas dazu, Ursula auszufragen, ist sie doch heute morgen zu spät gekommen, mit einem Zettel in der Hand, und der Lehrer hat anders als sonst gar nichts dazu gesagt. Auf jeden Fall: auch bei den anderen Kindern von der Klasse ist der Nikolaus nicht vorbeigekommen.
Es war schwierig. Er wollte zuerst nicht glauben, dass die neue Autobahn ein Hindernis für den Klaus sein könnte. Ich musste ihm erzählen, dass ich zusammen mit Dir in der Nacht dorthin spaziert bin. Das gab ein echtes Donnerwetter, aber Mami hat mir geholfen. Er hat mir versprochen, alles in Bewegung zu setzen, damit der Sankt Nikolaus den Weg zu uns findet. Aber er wird mir nicht sagen, was er erreicht hat. Es soll auch für mich eine Überraschung sein!
Einen solch langen Morgen, einen solch langweiligen Nachmittag haben weder Ursula noch Jonas je erlebt. Sie meiden zudem den Kontakt mit den andern Kindern von der Klasse und vom Schulhaus, damit sie sich sicher nicht verplaudern.
Endlich ist es Abend, ein dunkler Himmel wölbt sich über dem Dorf, leise rieseln einige Schneeflocken. Da ist plötzlich Hufgeklapper zu hören, fröhliche Glocken im Takt dazu, und dann, weit hinten, ist ein Schein zu sehen, welcher ein schwaches Licht auf St. Nikolaus, seinen Knecht und den Esel wirft.
Der Nikolaus kommt, der Nikolaus kommt, tönt es durch die Strassen und Gassen. Alle verschwinden in den Häusern, um den Sankt Nikolaus in der warmen Stube empfangen zu können.
Kinder, heute morgen schreiben wir einen Aufsatz. Titel: «Darum kam der Sankt Nikolaus einen Tag zu spät». Jonas und Ursula schauen sich an, schmunzeln dazu. So einfach war für sie noch kaum ein Aufsatzthema.