Hellgrün

Dieses Hellgrün ist mir zu herbstlich.

Dafür ist dieser Vorschlag zu knallig.

Dieser Farbfleck ist ziemlich dumpf, der würde nicht so gut zu unserer Frühlingskollektion passen.

Die nachmittägliche Planungssitzung geht dem Ende entgegen, als letzter Traktandenpunkt stehen die ersten Entscheide für die Werbekampagne im nächsten Frühjahr an. Frühlingshaftes Hellgrün, das war die Vorgabe aus der Sitzungseinladung, Aufgabe war es, das favorisierte Hellgrün an die Sitzung mitzunehmen. Jetzt stehen alle im Halbrund vor der Pinnwand mit den Farbmustern.

Wirklich alle? Nein, Hellmut ist noch dabei, die Flipcharts zu fotografieren als Beilage für das Sitzungsprotokoll.

Hellmut, wo ist eigentlich Dein Vorschlag für Hellgrün?

Was, hellgrün soll das sein? Ich sehe vor allem Organe.

Einige runzeln die Stirne, andere schmunzeln wissend. Immer, wenn es um Farben geht, diskutiert Hellmut nicht mit. Viele seiner Arbeitskolleginnen und -kollegen haben schon von der Farbfehlsichtigkeit von Hellmut gehört. Im Büro von Hellmut hängt ein grosses Poster an der Wand, welches die Sache mit dem Farbsehen erklärt. Vieles ist aus Wikipedia zusammenkopiert. Das „normale“ menschliche Auge hat drei Rezeptoren für die Grundfarben Rot, Grün und Blau. Und wie bei allen natürlichen Dingen unterscheidet sich die Empfindlichkeit dieser Farbfilter von Mensch zu Mensch. Bei einem von zehn Männern, aber nur etwa bei einer von hundert Frauen ist einer dieser Rezeptoren sehr schwach oder fehlt ganz, was dazu führt, dass diese Menschen Farben anders sehen. Was Farbenfehlsichtige sehen, können sich „Normalsehende“ kaum vorstellen – dank Fotos und speziellen Farbfilter-Computerprogrammen lässt sich die Wirkung der Farbfehlsichtigkeit bestenfalls illustrieren. Hellmut sagt dazu jeweils, dass für ihn das Originalbild und die Farbfehlsichtigkeitssimulation genau gleich aussehen, was für Menschen mit einem sogenannt normalen Farbsehen immer wieder erstaunlich ist.

Welches ist Deine Schlussfolgerung aus unserer Diskussion?

Wenn ich Euch so zuhöre, kam ich mir ein bisschen vor wie an einem Kongress der Grünen. Deshalb: Grün eignet sich nicht für eine Parteibezeichnung.

Hey, so habe ich es nicht gemeint. Was sagst Du zur Frühlingsfarbe?

Ich gehe davon aus, dass Ihr ein Orange findet, dass auch für mich nach Frühling aussieht, meint Hellmut und grinst dazu, während er zur nächsten noch zu fotografierenden Flipchart weitergeht.

Die Prognose von Helmut erweist sich als richtig: 10 Minuten später ist die Diskussion abgeschlossen, das von allen akzeptierte Frühlings-Grün-Orange ist ausgewählt, das Sitzungszimmer leert sich.

Kristiane, die Gestalterin, bleibt sinnend zurück.

Das Blatt mit der hellgrünen Frühlingsfarbe, die sie ab sofort bei den Gestaltungsarbeiten brauchen wird, trägt auf der Rückseite einen eindeutigen Code. Die technisch genutzten Farbräume umfassen sicher mehrere hunderttausend, hin und wieder mehrere Millionen unterscheidbare Farben. Auch für ihr geübtes Auge ist dies zwar nicht einfach, aber es funktioniert. Dieser eindeutige Code sollte eine eindeutige Erkennung der Farbe ermöglichen, das ist eine Tatsache. Nur: mit hoher Wahrscheinlichkeit wird es eine Farbe mit einem anderen Code geben, die für Hellmut genau die gleiche Farbwirkung hat dieses Frühlingshellgrün.

Die Welt von Hellmut, die Welt der vielen anderen Farbfehlsichtigen hat eine andere Farbigkeit als die Welt, die sie mit ihren Augen sieht. Und wenn sie die Simulation für Farbfehlsichtige des Frühlingshellgrün ansieht, hat auch sie den Eindruck, dass diese Farbe Richtung Orange wandert – zwar immer noch eine schöne Farbe, eine fröhliche Farbe, passend für den Frühling.

Nachhaltigkeit, das war auch an dieser Sitzung diskutiert. „Keine bleibenden Nachteile für zukünftige Generationen“. Hellmut hat seine Farbfehlsichtigkeit vererbt bekommen. Ist dies für Hellmut ein nicht-nachhaltiger Nachteil? Wahrscheinlich schon, kommt Kristina zum Schluss, Hellmut hat nicht die Möglichkeiten, sich mit Dingen zu beschäftigen, die mit Farben zu tun haben. Wenn sie sich allerdings an die endlosen Farb-Diskussionen mit ihren Kundinnen und Kunden erinnert, ist sie plötzlich nicht mehr so sicher, dass Farbfehlsichtigkeit eine Einschränkung darstellt.

Hellmut kommt nochmals zurück. Ich habe gesehen, dass ich einen Flipchart nicht so gut auf dem Bild habe, ich mache nochmals einen Versuch.

Sag mal, Hellmut, ist für Dich Farbfehlsichtigkeit ein Handicap?

Vielleicht, ich weiss es nicht. Du meinst, weil ich Grün nicht von Orange unterscheiden kann, im Verkehr und so? Im Gegenteil: Ich muss genau hinschauen, ob es wirklich Grün oder Orange ist, ich muss immer den Code hinten auf dem Blatt kennen, um sicher zu sein, ob es nun Orange oder Grün ist. Und das mache ich auch mit anderen Dingen so, ich will immer genau wissen, was hinten drauf steht. Nur wer so genau hinschaut, kann sicher sein, dass es sich um Grün und nicht um irgend eine andere Farbe handelt!

Kennst Du den Spruch von Daniel Patrick Moynihan: „Jeder Mensch hat ein Recht auf seine eigene Meinung, aber nicht auf seine eigenen Fakten“? Wenn ich mich zu einer Farbe äussere, weiss ich, dass dies meine Meinung ist, dass diese Meinung falsch sein kann – die Fakten stehen hinten auf dem Farbblatt. Du weisst vielleicht, es gibt auch andere Farbfehlsichtigkeiten, die die Folge von schwachen oder fehlenden Rezeptoren bei einer oder mehreren der drei Grundfarben sind. Über die gleiche Farbe können also viele Meinungen zusammenkommen, obwohl neunzig Prozent der Menschen keinen genetischen Farberkennungsdefekt haben.

Irgendwie ist doch das in der Politik und in der Gesellschaft nicht anders. 97 Prozent der Wissenschafterinnen und Wissenschafter sind der Meinung, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Mensch gemachten Klimawandel gibt. 97 Prozent der Wissenschaft sagt, dass der Mensch gemachte Klimawandel als Fakt betrachtet werden muss. Drei Prozent sind anderer Meinung. Und alle begründen, warum ihre Meinung die richtige sein soll. Das ist etwa so, wie wenn alle die gleiche Farbe auswählen müssen, aber niemand weiss, ob er oder sie farbfehlsichtig ist.

Jetzt verunsicherst Du mich aber ziemlich, ich muss ja die Werbung für Eure Klimaschutzprodukte machen, und Du sagst mir jetzt, dass Ihr vielleicht auf die falsche Farbe gesetzt habt.

Nicht vielleicht, sondern wir haben ziemlich sicher auf die richtige Farbe gesetzt. Schau mal, das ist wie mit den Ampeln im Verkehr. Ich weiss als Farbfehlsichtiger nicht mit absoluter Sicherheit, ob ich nun Rot, Grün oder Orange vor mir habe. Weil aber Grün, Organe und Rot immer gleich angeordnet sind, weiss ich auch ohne Farben, wann ich über den Fussgängerstreifen gehen kann und wann ich warten muss. Für unsere Produkte heisst dies: diese dürfen nicht nur Umsatz für unsere Firma generieren, sondern müssen auch von Nutzen für unsere Kundinnen und Kunden sein, falls der Mensch gemachte Klimawandel trotz der heutigen hoch wahrscheinlichen Aussagen nicht eintreffen sollte. Dazu gehört, dass die Dinger gut aussehen, mit einer richtig frechen Frühlingsfarbe, egal ob Orange oder Hellgrün!


Der Anhang zur Geschichte:


In der Geschichte wird auf Wikipedia verwiesen – dazu passt diese Meldung zum Brockhaus-Lexikon von gestern, 13. Juni 2013: Brockhaus weicht Wikipedia!


Zum Farbquadrat am Anfang: es handelt sich um zusammenkopierte Farben aus Bildern mit dem Google-Suchbegriff „Hellgrün“.

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