Geschenke

Ein trüber Mittwochmorgen im November. Draussen kämpft die Sonne gegen den Nebel. Die Redaktion arbeitet Punkt für Punkt der Traktandenliste ab. „Weihnachtsausgabe“, letzter Punkt vor den Varias.

Rudi, Feuilleton-Chef und stellvertretender Chefredaktor, meldet sich. Wir machen es wie jedes Jahr: wir fragen den Preisträger oder die Preisträgerin des städtischen Literaturpreises an. Die Preisverleihung ist zwar erst etwa zwei Wochen vor Weihnachten, dieses Jahr sind es exakt elf Tage, aber das hat noch immer geklappt.

Juliana, seit kurzem verantwortlich für die Technik-Seiten, hat einen anderen Vorschlag. Ich habe da eine Geschichte, die das Leben schrieb, und das passt genau für die Weihnachtsausgabe – hat sehr viel mit Geschenken und sehr wenig mit Technik zu tun. Erzählen möchte ich noch nichts darüber.

Viele in der Runde krausen die Stirne oder schütteln den Kopf: ausgerechnet eine Weihnachtsgeschichte in Techniksprache? Und dann erst noch „Katze im Sack“, was da wohl herauskommen wird? Es ist sicher nicht so, dass die Weihnachtsgeschichte über den Umsatz entscheidet, aber eben, die Zeitung hat da schon eine gewisse Verpflichtung. Die Diskussionen wogen hin und her, schliesslich kommt von Fritz vom Anzeigenverkauf ein Vorschlag: Juliana wird zwei Wochen vor Weihnachten die fixfertige Geschichte vorlegen, spätestens am Dienstagabend um 17 Uhr. Falls die Story nichts taugt, bleibt immer noch die Möglichkeit für eine Anfrage an die Preisträgerin oder den Preisträger des Literaturpreises.

* * *

Auf die Sekunde genau am vereinbarten Termin trifft bei allen Mitgliedern der Redaktion eine E-Mail von Juliana ein. Es wird ruhig in den Redaktionsräumen, hin und wieder ist ein amüsiertes Lachen zu hören.

Juliana berichtet aus dem Leben eines älteren Mannes aus der Stadt. Selbst wenn der Namen anonymisiert worden wäre, würden ihn einige der LeserInnen bereits nach den ersten Sätzen erkennen. „Der Professor“ ist stadtbekannt. Nein, Professor war er nicht, aber er galt als Erfinder, als Tüftler. Bekannt geworden war er vor Jahren, als er mit sehr einfachen Mitteln ein technisches Problem der städtischen Stromversorgung behoben hatte, welches von diversen Experten aus dem In- und Ausland als unlösbar bezeichnet worden war. Man hatte schon lange nichts mehr davon gehört, also war die Sache offenbar erledigt.

Max N. hatte lange Jahre ein kleines Unternehmen geführt, vor allem mit der Hilfe seiner Familienangehörigen. Seit einigen Jahren lebte Max von einer kleinen Rente, seine Frau war bereits vor längerer Zeit an einer schweren Krankheit gestorben. Max hatte einige Male Mitarbeiter angestellt, aber selten hatte es jemand bis zum Ende der Probezeit bei ihm ausgehalten. Wenn er gerade wieder am Pröbeln war, vergass er die Welt um sich und den Lauf der Zeit – der wirtschaftliche Erfolg blieb den Unternehmen dieses genialen Menschen versagt.

Max hatte eine Vision. Er ging davon aus, nein, er wusste es: die Sonne liefert genug Energie für die Versorgung der gesamten Welt, auch mit noch viel mehr Menschen. Es ging nur darum, diesen Energieüberfluss klug zu nutzen. Wenn immer es die Zeit erlaubte, häufig auch, wenn eigentlich dringendere Dinge zu erledigen gewesen wären, stand Max in seiner Werkstatt und experimentierte mit komplizierten Einrichtungen. Wer sich Zeit nahm und es aushielt, seinen mehrheitlich unverständlichen Ausführungen zuzuhören, erfuhr sehr lehrreiche Dinge. Max behauptete dann jeweils, ihm sei der Durchbruch gelungen, es gehe jetzt nur noch darum, jemanden zu finden, der sein Verfahren zur Serienreife bringe. Seit seiner Pensionierung war dieses Thema für ihn abgeschlossen, und seine Pröbeleien galten der schwierigen Frage, Schuhbändel zu entwickeln, die sich nicht von selbst öffneten. Da gab es sicher weitere Projekte, aber er berichtete selten über die Fortschritte seiner Arbeiten.

Die Geschichte wechselte den Schauplatz, nach Kanada, in die Gegend der grossen Seen. Robert Ruger und Steff Johnson betrieben dort erfolgreich eine Produktionsanlage für Photovoltaik-Produkte. Im Sommer hatte eine Regionalzeitung aus dieser Gegend über das Unternehmen berichtet. Es wurde mit den beiden Firmengründern ein längeres Interview über ihre Erfolgsgeschichte geführt. Robert erinnerte sich an einen Brief aus einer kleinen Stadt in der Schweiz. Der Briefschreiber hatte in einer Fachzeitschrift vom Produktionsbeginn in der kanadischen Fabrik gelesen und bot an, dass sie von seinen langjährigen Tüfteleien profitieren könnten. Sie waren beide über den Atlantik geflogen, hatten sich die Arbeiten von Max angeschaut, hatten einiges an Notizen gemacht. Sie waren übereingekommen, dass sie ihm einige zehntausend Dollar für sein Know-how bezahlten. Auf jeden Fall hatten sie eine gute Erinnerung an die Schweiz, auch an das hübsche Städtchen am Ufer eines Flusses. Es zeigt sich, dass die Arbeiten von Max tatsächlich einen Durchbruch ermöglichten. Es waren nur noch einige Detailanpassungen nötig, um schneller und mit weniger Material- und Energieaufwand günstigere Photovoltaik-Zellen fabrizieren zu können.

Der Kontakt mit Max war leider abgebrochen. Wie Steff sich ausdrückte, hatte ein Praktikant ein elektronisches Feuerwerk veranstaltet, was zur Folge hatte, dass das Büro- und Laborgebäude vollständig abbrannte. Dabei waren sämtliche Papierunterlagen mit verbrannt. Mit Max hatten sie nur per Post oder direkt korrespondiert, es gab auf den Mail-Servern somit keine Spuren dieses Kontakts. Im Interview hatten Steff und Robert zugesagt, den Kontakt zu ihrem Tüftler wieder aufzunehmen.

Da Max sein Unternehmen unterdessen aufgegeben hatte, war die Suche schwierig. Steff machte aus zehnjähriger Erinnerung eine Skizze des Ortes, an dem sie Max getroffen hatten. Didi, der Chef der europäischen Filiale ihres Unternehmens, fand sich zuerst in einer Sackgasse: an diesem Ort war eine Firma tätig, die die Büros erst drei Monate vorher bezogen hatte, und niemand dort hatte eine Ahnung von der Vorgeschichte dieser Räumlichkeiten. Zudem hatte das Gebäude erst vor wenigen Jahren die Eigentümerschaft gewechselt – der frühere Eigentümer, der die Werkstatt an Max vermietet hatte, war nicht mehr aufzufinden. Enttäuscht, dass er die Anfrage seiner Geschäftskollegen in Kanada nicht erledigen konnte, spazierte Didi durch die Stadt, als er zufällig einen Freund aus Studienzeiten traf und ihm die Geschichte erzählte. Bereits nach wenigen Sätzen meinte dieser trocken: da kann nur der Professor, da kann nur Max gemeint sein!

Steff und Robert konnten Max im November von der Bedeutung seiner Erfindung für den Erfolg der neuen Solarzellen überzeugen, und sie brachten ihn auch dazu, eine Art Sonderdividende zu akzeptieren. Trotz einer reichlichen Altersvorsorge blieb noch genügend Geld übrig, um damit ein kleines, feines Labor einzurichten – damit Max hin und wieder an der Verbesserung der Sonnenenergienutzung arbeiten könnte. Seine Forschungen an den nicht selbst öffnenden Schuhbändeln gab Max sofort auf, sehr zum Leidwesen jener, die weiterhin mit offenen Schuhen durch den Tag ziehen müssen.

Juliana hatte Max Anfang Dezember interviewt, als gerade dessen jüngste Tochter Karina und Nia, das zehnjährigen Grosskind von Max, zu Besuch waren. Selbst als Technikredaktorin hatte Juliana kaum etwas verstanden von den Ausführungen zu den Solarzellen. Da es aber Nia nicht anders gegangen war, kam bald ein Gespräch über ganz andere Dinge in Gang. Nia wollte von Max wissen, ob er sich mehr über das Geld – als grosses Weihnachtsgeschenk – oder über den Erfolg seiner Ideen freue. Max zögerte keinen Moment, und wies auf die Solarzelle, die auf dem Balkon stand. Wenn ich einen Computer einschalte, wenn ich den Lichtschalter drehe, wenn ich mir einen Kaffee braue, wenn ich den Rahm aus dem Kühlschrank nehme, immer hat es ein bisschen Strom dabei, der dank meiner Pröbeleien möglich wurde. Darüber freue ich mich, doch, und ich bin darauf auch stolz!

Max schweigt, scheint in seinen Erinnerungen zu kramen. Nach einer Weile spricht er weiter.

Diese Freude, dieser Stolz hat allerdings einen Preis. Erst als Deine Grossmutter, die Du leider nicht kennen gelernt hast, gestorben ist, habe ich herausgefunden, was sie alles dafür getan hat, dass unsere Familie etwas zum Essen auf dem Tisch hatte und immer ein regendichtes Dach über dem Kopf.

Karina nickt dazu, seufzt und ergänzt: Wir Kinder haben davon gewusst, und wir haben uns immer gewundert, wie abwesend Du gewesen bist, dass Dir das nicht aufgefallen ist. Mama hatte auch viele, viele gute Ideen. Und wenn sie Dir nicht hie und da zugehört hätte bei Deinen Schwierigkeiten, ich weiss nicht, ob es diese Solarzellen heute geben würde.

Max nickt zustimmend, schon wieder in Gedanken versunken.

* * *

Die Geschichte ist längst gelesen in der Redaktion, doch es bleibt ruhig. Nur jene, die für die Schlussredaktion der morgigen Ausgabe verantwortlich sind, sitzen an ihren Arbeitsplätzen. Die andern haben früher als üblich Feierabend gemacht.

Wieder ein Mittwochmorgen. Draussen liegt Schnee, und ein blauer Himmel wölbt sich über der Stadt. Bald beginnt die Redaktionssitzung, nur Juliana fehlt. Auf dem Tisch vor ihrem üblichen Sitzplatz häufen sich kleine und grössere Pakete.

Als Juliana leicht verspätet eintrifft, eröffnet Rudi die Sitzung und wendet sich zuerst an Juliana. Herzlichen Dank und Gratulation für Deine Geschichte, das passt bestens. Und die Geschenke vor Dir sind so eine Art Entschuldigung, dass einige von uns, auch ich, Dir diese Geschichte nicht zugetraut haben. Ich frage mich eigentlich nur noch, welches Deine eigene Rolle bei dieser Geschichte ist. Aber ich vermute, dass dies bereits wieder eine andere Geschichte ist.

Juliana nickt, mit einem strahlenden Lachen im Gesicht.

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